IPv6 und Cloud

"Je später die Umstellung auf IPv6, desto kostspieliger wird sie"

Uhr | Aktualisiert
von Marcel Urech und Janine Aegerter

Unternehmen tun sich mit der Umstellung auf IPv6 schwer. Ciprian Popoviciu, der über 13 Jahre bei Cisco gearbeitet und danach den IPv6- und Cloud-Berater Nephos6 gegründet hat, weiss warum. Im Interview erklärt er, worauf CIOs achten müssen.

Der IPv6- und Cloud-Experte Ciprian Popoviciu mahnt CIOs zur Vorsicht beim Wechsel auf das neue Internetprotokoll. (Quelle: Nephos6)
Der IPv6- und Cloud-Experte Ciprian Popoviciu mahnt CIOs zur Vorsicht beim Wechsel auf das neue Internetprotokoll. (Quelle: Nephos6)

Herr Popoviciu, Sie sehen grosses Potenzial im Markt für Cloud und IPv6. Warum?

Unternehmen und Service-Provider stehen vor einer Herkulesaufgabe – vor allem in Bezug auf ihre IT. Das Problem ist, dass Kunden und Endgeräte exponentiell wachsen. Das ist eine riesige Herausforderung, die sich nur mit skalierbaren Infrastrukturen meistern lässt. Diese werden in Zukunft die Grundvoraussetzung sein, um nachhaltig wachsen zu können.

Und dafür braucht es IPv6?

Oh ja, zwingend. Das neue Internetprotokoll schafft in Kombination mit der Cloud die Grundvoraussetzung für Skalierbarkeit und Agilität. Um das Mehr an Nutzern, Geräten und Dienstleistungen effektiv zu organisieren, sind automatisierte Systeme vonnöten. Diese werden es Unternehmen ermöglichen, neue Angebote schneller auf den Markt zu bringen.

Sind sich Unternehmen dessen bewusst?

Das Business beginnt, dies zu erkennen, und die Nachfrage nach flexiblen IT-Infrastrukturen wächst. Aber die Budgets sind mächtig unter Druck. Der einzige Weg, um die Veränderungen in den Märkten zu meistern, ist die Migration auf die IT der nächsten Generation: IPv6. Unternehmen müssen sich da rüber Gedanken machen, wie sie ihre Zielarchitekturen neu definieren – unabhängig davon, ob sie den Versprechen der Cloudund IPv6-Industrie Glauben schenken oder nicht.

Wie gross schätzen Sie das Marktpotenzial von Cloud und IPv6 ein?

Ich werde mich nicht mit einer Schätzung aufs Glatteis wagen. Aber jede Facette von IT ist von diesen zwei Mega-Trends betroffen. Dies macht es umso schwieriger, die Treiber des Marktes richtig einzuschätzen. Gartner geht davon aus, dass rund sechs Prozent eines durchschnittlichen IT-Budgets dafür verwendet werden müssen, um den Wechsel zum "neuen Internet" mitzumachen. Wenn Sie diese Zahl nun auf alle IT-Unternehmen hochrechnen, bekommen Sie eine ungefähre Ahnung davon, wie gross der Markt für Cloud und IPv6 wirklich ist.

Trotzdem scheint er noch nicht sehr kompetitiv.

Für IPv6 stimmt diese Aussage. Was die Cloud betrifft, sind Sie aber wohl vom lokalen Markt geblendet. In den USA ist der Wechsel in die Wolke bereits in vollem Gang – in unterschiedlichsten Formen (Private, Public, Hybrid) und Modellen (Infrastructure-as-a- Service, Platform-as-a-Service, Software-asa- Service). Der weltweite Cloud-Markt dürfte nächstes Jahr äusserst kompetitiv sein. Der Wert von IPv6 hingegen ist Business-Entscheidern, die nicht zwingend mit der Funktionsweise des Internetprotokolls vertraut sein müssen, deutlich schwieriger zu vermitteln.

Warum ist das so?

IPv6 ist kaum sichtbar, noch weniger als die Cloud. Die IT muss dem Business also erklären, dass es die Grundlage von IT-Umgebungen der Zukunft bildet. Bei sinkenden ITBudgets erhält IPv6 oft eine tiefere Priorität. Stattdessen werden Projekte umgesetzt, die sichtbarer sind und ein schnelles Resultat versprechen. Das ändert aber nichts daran, dass der Wechsel auf IPv6 zwingend nötig ist. Setzt ein Unternehmen hier die Prioritäten falsch, kann es seine Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Unternehmen müssen eines wissen: Je später die Umstellung auf IPv6, desto kostspieliger wird sie.

Viele CIOs zögern dennoch. Wovor haben sie Angst?

Ängste gibt es immer, einige sind begründet, andere nicht. Beim Umstieg auf IPv6 zum Beispiel ist Sicherheit ein ganz grosses Thema. Das ist auch gut so. Wenn die Sicherheits bedenken aber so stark sind, dass sie zum K.-o.-Kriterium für die Migration auf das neue Internetprotokoll werden, ist das verheerend. Denn die Notwendigkeit für den Umstieg ist unbestritten und Probleme lösen sich nicht, indem man nichts tut. Mit Entwicklungen wie Bring your own Device, der Consumerization von Enterprise-Apps und Borderless Networks wird IPv6 notwendiger denn je.

Gibt es weitere Gründe, warum der Wechsel auf IPv6 vielen Unternehmen schwerfällt?

Der Hauptgrund für den ruhigen Markt ist die Tatsache, dass Business-Entscheider IPv6 noch eine geringe Bedeutung beimessen. Die Migration hat eine tiefe Priorität und kurzfristige Projekte meist Vorrang. Viele Unternehmen sind heute damit beschäftigt, dringende IT-Probleme zu lösen. Diese gibt es aber nur, weil die Verantwortlichen nicht langfristig denken und handeln. Natürlich stimmt es, dass der Wechsel zu Cloud und IPv6 ein gros ses Vorhaben ist. Genauso ist er aber eine grosse Chance. Gelingt es Unternehmen, eine zukunftsträchtige IT-Umgebung aufzubauen, die die Anforderungen des Business auf effiziente Art und Weise erfüllt, werden sie als Sieger hervorgehen.

Sie kritisieren, dass die Cloud in erster Linie mit Kosteneinsparungen assoziiert wird. Warum?

Es ist eines der grössten Missverständnisse in der IT, den Begriff Cloud mit Kosteneinsparungen gleichzusetzen. Das ist schlicht falsch. Die Cloud ist ein Sammelsurium von Technologien, die einen ganz spezifischen Nutzen generieren. Bei diesen geht es in erster Linie darum, agile und serviceorientierte IT-Unternehmen zu schaffen. Also Unternehmen, die durch den Einsatz von IT befähigt werden, schnell und effektiv Produkte und Dienstleistungen auszuliefern, die von ihren Kunden nachgefragt werden. Kosteneinsparungen können mit der Cloud zwar auch erzielt werden, aber das sollte nicht das oberste Ziel sein.

Wird auch IPv6 oft missverstanden?

Ja, sogar fundamental. Viele IT-Verantwortliche gehen davon aus, dass es bei IPv6 nur um das Netzwerk geht. Sie meinen, der Wechsel auf das neue Internetprotokoll sei ein Kinderspiel. Also planen sie die Migration wie jedes andere Projekt im Bereich Netzwerktechnik. Die Realität sieht anders aus: IPv6 tangiert Technologien, Prozesse, Menschen – jeden denkbaren Aspekt von IT. Ich würde sogar sagen, dass die Veränderungen im Bereich Netzwerktechnik noch das kleinste Problem sind.

Was genau macht ihr Unternehmen Nephos6?

Nephos6 bietet Cloud-Dienstleistungen in Verbindung mit IPv6 an. Wir sind direkt involviert in Strategiefindung, Planung und Ausführung von Cloud- und IPv6-Projekten. Dabei sind wir von den Anbietern unabhängig.

Als CEO von Nephos6 spüren Sie täglich den Puls der Branche. Wo gibt es denn die grössten Probleme und Sorgen?

Unsere Kunden haben Mühe, die komplexen Angebote der Cloud- und IPv6-Industrie zu durchschauen. Das allergrösste Problem ist aber das mangelnde Verständnis für die Technologie IPv6 und ihren Auswirkungen. Die Implikationen, die der Wechsel auf das neue Internetprotokoll mit sich bringt, werden massiv unterschätzt. Sobald die Entscheidungsträger die Technologie einmal verstehen, geben sie ihr eine ganz andere Priorität.

Woher kommt das mangelnde Verständnis für IPv6?

Es gibt im Markt eine Tendenz, zwar strategisch, aber eben doch falsch zu denken. Der Wechsel auf IPv6 darf nicht als ein ganz normales Netzwerk-Upgrade oder die Aufschaltung einer neuen Funktion innerhalb des Netzwerks angesehen werden. Es ist eine gros se Herausforderung, IPv6 mit allen weiteren IT-Projekten sinnvoll zu koordinieren. Wer hier versagt, verliert viel Geld. Ohne eine gute Planung kann der Übergang nicht kostengünstig über die Bühne gehen. Dieser Punkt wird von CIOs und Business-Entscheidern immer wieder unterschätzt.

Was empfehlen Sie Unternehmen, die auf Cloud und IPv6 umsteigen wollen?

Der Wechsel sollte unbedingt im Kontext der gesamten IT-Strategie und den darunter liegenden Architekturen betrachtet werden. Die Zielarchitektur muss auf IPv6 basieren. Ob dabei zuerst das Budget für IPv6 oder die Cloud gesprochen wird, ist sekundär. Machen Sie keine IPv6-ready-Cloud-Planung, sondern eine Cloud-Planung auf Basis von IPv6! Das Gleiche gilt auch umgekehrt. Nochmals: Cloud und IPv6 sind miteinander verflochten und berühren jeden erdenklichen Aspekt von IT. Eine voll skalierbare Cloud ist ohne IPv6 gar nicht möglich. CIOs müssen verstehen, dass die neuen Technologien einen komplexen Wendepunkt für die IT ihres Unternehmens darstellen.

IPv6 vs IPv4

Durch das rasante Wachstum des Internets hat sich in den letzten Jahren eine Knappheit an IP-Adressen abgezeichnet. Das Netzwerkprotokoll IPv4 soll daher in den nächsten Jahren durch IPv6 abgelöst werden. Mit dem neuen Protokoll werden die 32-Bit-IP-Adressen durch 128-Bit-IP-Adressen abgelöst. Dadurch werden statt der bisher rund vier Milliarden möglichen IP-Adressen (232) künftig 340 Sextillionen IP-Adressen vergeben (2128).

Die neuen Adressen werden eine neue Struktur aufweisen. Statt der bisher bekannten Notation mit vier Zahlen, die durch einen Punkt getrennt werden und je einen Wert von 0 bis 255 annehmen können (zum Beispiel 173.194.35.184 für Google.ch) sehen die neuen IPv6-Adressen beispielsweise so aus: 2001:0db8:85a3 :08d3:1319:8a2e:0370:7344. Will man diese Adresse in einer URL darstellen, setzt man die Zahl einfach in eckige Klammern, also http://[2001:0db8:85a3 :08d3:1319:8a2e:0370:7344]/. Bei IPv4 hingegen gelangt man mit der Eingabe http://173.194.35.184/ auf die Website von Google.ch.