"Cloud-Dienste sind eine Art Demokratisierungsbewegung"
Dank der Cloud kann die HSG-Professorin Andrea Back heute in ihrer Forschungstätigkeit viel häufiger und einfacher auf sie zugeschnittene Tools nutzen als zuvor. Dabei ist sie aber auch schon das eine oder andere Mal von Anbietern enttäuscht worden, wie sie im Interview mit der Netzwoche berichtet.

Frau Back, Sie unterziehen sich seit vier Jahren einem Selbstversuch in Sachen arbeiten in der Cloud – was ist der Grund dafür?
Ich wollte Anwendersoftware ausprobieren, die unsere IT noch nicht bereitstellen konnte, unter anderem eine Blog-Software und ein Wiki. Ein Selbstversuch war es, weil ich damals noch gar nicht wusste, welches Produkt oder welcher Dienst am besten zu meiner Arbeit passt. Deshalb wollte ich verschiedene ausprobieren, ohne gleich viel Geld zu investieren und Fixkosten zu verursachen. Dazu kam noch, dass ich mit einigen bereits vorhandenen Anwendungen nicht zufrieden war.
Für welche Anwendungsgebiete wollten Sie Lösungen finden?
Es ging im Wesentlichen um Anwendungen in den Bereichen Kommunikation und Kollaboration. Diese Themen deckten die vorhandenen Applikationen nicht in der Web-2.0-Weise ab, die ich mir vorstellte. Angefangen habe ich zuerst 2007 mit Blog-Software, dann kamen Wiki, Datensicherung und schliesslich Microblogging und Projekt-Kollaborationswerkzeuge hinzu.
Wie sah das IT-Umfeld in Ihrer Abteilung damals aus?
Wir hatten IBM Lotus Notes und Microsoft Office, allerdings nicht die aktuelle Version. Als CMS nutzte ich Typo3.
Was hat die IT seinerzeit zu Ihrem Selbstversuch gemein?
Es wurde schon ein bisschen als Bedrohung wahrgenommen, weil es natürlich nach einer Outsourcing-Strategie aussieht. Aber als Universität haben wir die IT betreffend recht grosse Freiräume. Meine Unsicherheiten entstanden eher daraus, dass es noch keine ausformulierten Regeln bezüglich der Nutzung von Cloud-Anwendungen gab. Unsere zentrale IT ist aber daran interessiert, dazuzulernen, was es braucht, um eine Dienstleistung anbieten zu können, die genauso gern genutzt wird wie die Cloud-Dienste. Man will aber auch wissen, wo die Probleme und Risiken solcher Angebote liegen. Und das lässt sich mit den Echtanwendungen wie den meinen relativ gefahrlos herausfinden. In diesem Sinn habe ich mit dem CIO die Regelung getroffen, dass wir als Institut für Wirtschaftsinformatik das Innovationslabor der Hochschule sein dürfen.
Sie spielen also quasi das Versuchskaninchen?
Wenn Sie so wollen, ja. Jedenfalls hatte ich nie das Gefühl, dass sich hier jemand als Polizist gebärden will.
Dann hatten Sie ja eine recht starke Stellung, um Ihren Selbstversuch zu beginnen.
Ja. Ich bin zwar Endanwenderin, geniesse aber als Direktorin des Instituts auch Vertrauen und eine gewisse Durchsetzungskraft. Aber das "Fremdgehen mit Webdiensten" ist bei uns ohnehin nicht grundsätzlich verboten. Die HSG sperrt auch keine Web-2.0-Dienste wie Facebook oder Youtube. Noch haben wir keine Social-Media-Richtlinien, die werden aber sicher noch kommen.
Was waren die grössten Erfolgserlebnisse während Ihres Experiments?
Verblüffend ist, wie stark sich meine Arbeitspraxis durch die Nutzung der Cloud-Dienste verändert hat. Es fasziniert mich, wie schnell ich mich heute in meiner Informationslandschaft und in meinem Netzwerk bewegen kann. Ich finde mich rascher zurecht, weil alles nur einen Klick entfernt ist, und ich bin überzeugt, dass meine Produktivität dadurch enorm gestiegen ist. Das führte zu einer Arbeitsverdichtung – die wiederum verlangte erhöhte Konzentration. Es dauerte aber eine Weile, bis ich damit umzugehen wusste. Besonders genial finde ich die Projekt-Kollaborationsdienste. Wir arbeiten viel in virtuellen Teams mit Leuten ausserhalb der Organisation – beispielsweise für Buchprojekte. Jetzt gerade läuft eine Onlinestudie, an der verschiedene Niederlassungen des Unternehmenssponsors mitwirken. Es wäre ein Horror, wenn ich hier auf die übliche Art und Weise arbeiten müsste. Am liebsten würde ich mich weigern, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die sich noch über E-Mails mit Anhang zu organisieren versuchen. Aber das ist zurzeit noch illusorisch. Inzwischen stünden mir via Lotus Connections auch moderne Kollaborationswerkzeuge zur Verfügung. Hier bin ich im derzeitigen Pilotbetrieb noch gezwungen, mit der internen IT zu interagieren, was mich zu sehr bremst.
Aber müssen Sie bei Externen, die zum ersten Mal einen Cloud-Dienst nutzen, nicht auch Support leisten?
Für die Bedienung muss ich eigentlich keinen Support leisten. In der Regel sind die Anwendungen recht einfach und durch die Anleitungsvideos selbst erlernbar. Das Problem ist mehr der Abwehrreflex gewisser Menschen gegen das, was nicht ins bisherige Schema passt. Deshalb ist es wichtig, dass ich in einem Projekt die Definitionsmacht habe, wie und womit gearbeitet wird. In der Praxis setze ich die nötige Arbeitsumgebung schon zu Anfang mit der ersten E-Mails zum Projekt auf und schubse die Beteiligten einfach hinein. Etwas aufwendiger ist es, im Lauf des Projekts dafür zu sorgen, dass die Beteiligten nicht wieder auf ihre gewohnten Trampelpfade ausweichen. Das ist so wie bei einer Schafherde: Einzelne büxen manchmal aus und schicken ein Dokument wieder als E-Mail-Anhang herum. Dann muss ich sie erinnern, das auch in die Projektumgebung hochzuladen. Aber im Vergleich zu meinem Produktivitätsgewinn ist das kein allzu gros¬ser Aufwand.
Welche Kollaborationswerkzeuge setzen Sie ein?
Angefangen haben wir mit Basecamp, dann kamen Comindwork und Teamlab dazu. Sie bieten alles, was man für die Projektorganisation braucht, also Meilensteine, Zeiterfassung, Blogfunktion, Wiki, File-Sharing und so weiter. Es gibt übrigens noch viele weitere solcher Workspaces. Für die Kommunikation ausserhalb von Projekten und mit der Internetöffentlichkeit habe ich mehrere Blogs, die auf Wordpress basieren; das läuft jedoch auf einem Inhouse-Server.
Für welches dieser Werkzeuge haben Sie sich entschieden?
Momentan nutzen wir noch verschiedene, auf welches wir uns am Ende konzentrieren, kann ich noch nicht sagen. Wenn ein Projektpartner das Werkzeug vorgibt, ist ein Tool-Mix ohnehin nicht zu vermeiden.
Was waren die grössten Flops?
Cloud-Dienste funktionieren ja nur übers Internet. Deshalb frustriert es mich immer mehr, wenn ich nicht überall Zugang habe. Enttäuscht hat mich auch, dass (m)ein Wiki-Anbieter nach einer gewissen Zeit sein Preismodell so verändert hat, dass es für mich unattraktiv wurde. Da entschied ich, den Anbieter zu wechseln. Ich glaube, wenn Anbieter so etwas öfter machen, werden sie sich aus dem Markt kicken. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich bin nicht der Meinung, dass solche Dienste kostenlos sein müssten. Aber wenn man von einem Nutzungskostenmodell zu einem Lizenzkostenmodell wechselt, dann ist das einfach zu krass.
Was passiert mit den Inhalten, wenn Sie einen Anbieter wechseln?
Dann wird das ein Datenmigrationsprojekt, das eben seine Zeit braucht. In diesem Fall konnten wir die Anwendung ohne Kostenfolge auf den eigenen Server übernehmen, aber das lief nicht gleich stabil. Statt den Fehler zu suchen, mache ich lieber das Migrationsprojekt im Herbst mit einem studentischen Team und kann das Lehrstuhlwiki dabei gleich restrukturieren und verbessern.
Sonst lief alles nach Wunsch?
An Ostern hatte die Amazon-Cloud fast vier Tage einen Ausfall. Während dieser Zeit waren darauf basierende Dienste nicht mehr zu erreichen, beispielsweise meine Projektkollaboration. Das ist für mich aber kein Flop. Das betrachte ich als sehr seltene Betriebs¬störung, die man nicht ausschliessen kann.
Diese würden Sie bei Ihrer internen IT aber kaum akzeptieren ...
Das war auch ein Extremfall. Solche Unfälle hat es schon immer gegeben, aber es sind Ausnahmen. Und ausserdem betraf der Ausfall bei mir keine so zeitkritischen Anwendungen.
Für welche Zwecke gibt es heute schon ausgereifte Cloud-Dienste für KMUs?
Aus meiner Erfahrung für E-Mail, Datensicherung, Filesharing, Projektkollaboration, Kommunikation in Form von Blogs und Microblogging, Wikis und mehr. Ich nutze auch Doodle, oft lieber als den Gruppentermin¬kalender. Auch verwende ich Google Docs – das ersetzt bei mir aber kein Office. Zwar gibt es verschiedene Virtual-Private-Workspace-Angebote in der Schweiz. Weil ich damit nicht gearbeitet habe, kann ich dazu nichts sagen, das gilt auch für die ERP-Anwendungen, die schon in der Cloud angeboten werden. Generell muss man sich bewusst sein, dass viele Cloud-Dienste samt ihrer Geschäftsmodelle in einem frühen Entwicklungsstadium sind. Ich betrachte meine "zusammengebaute" Arbeitsumgebung als Vorserienmodell, das nicht perfekt ist. Aber sie funktioniert immerhin so gut, dass es Freude und Sinn macht, damit zu arbeiten.
Was gibt es zur Interoperabilität zwischen Cloud- und On-Premise-Anwendungen zu sagen?
Kurz und bündig: Die existiert in meiner IT-Umgebung nicht. Das fängt beim fehlenden Single Sign-on an und reicht bis zur fehlenden Datenintegration der beiden Welten. Es gibt zwar Datenimport und -export. Ich nehme an, dass Cloud-Integration als Funktionalität und Dienstleistung bald kommen wird. Einfacher ist es, wenn man als Start-up neu beginnt. Dann haben Sie noch keine Standardanwendungen mit wichtigen Daten und es ist vorrangig, schnell, kostengünstig und sukzessiv, an die wichtigen Applikationen zu kommen.
Ihr vorläufiges Fazit?
Ich kann mir mit Cloud-Anwendungen heute meine Werkbank zusammenstellen, wie ich sie brauche. Das führt auch dazu, dass man mal etwas probiert, was man sonst nicht tun würde. Ich jedenfalls werde damit weiterfahren und etwa alle zwei Jahre eine Konsolidierungsübung machen. Das Aufräumen hat sich als notwendig erwiesen. Genau aus dieser Erfahrung heraus ist unser Arbeitsplatz-2.0-Coaching entstanden, das wir heute auch für Firmen anbieten. Wir haben das schon zweimal durchgeführt. Einmal mit Intranet-Verantwortlichen, die den Next-Generation-Workplace konzipieren. Sie fanden die Strukturierung, die wir für unsere Arbeitspraxis entwickelt haben, sehr nützlich für ihre eigenen Projekte.
Dann können Sie KMUs empfehlen, sich in die Wolke zu bewegen?
Die Antwort darauf lautet: "Es kommt darauf an." Man muss immer berücksichtigen, was das einzelne Unternehmen genau macht. Auf jeden Fall empfehle ich, Cloud-Dienste nicht abzutun, sondern zu beobachten und näher hinzusehen. Cloud-Dienste sind eine Art Demokratisierungsbewegung, die auch kleine KMUs an professionellen IT-Lösungen teilhaben lassen. Es geht nicht nur um IT-Kosten, man gewinnt an Flexibilität und Agilität. Zur Frage, ob sich ein produzierender Betrieb ein integriertes ERP aus der Cloud zulegen soll, läuft bei uns gerade ein Forschungsprojekt. Wir analysieren die Unterschiede zwischen den Cloud- und den On-Premise-Angeboten. Zudem befragen wir Firmen, die sich schon für die eine oder andere Variante entschieden haben. Aus den gesammelten Ergebnissen wird dann ein Entscheidungsunterstützungssystem für die Wahl zwischen Cloud- und On-Premise-Modell entstehen, in gut einem Jahr wird es so weit sein.
Nehmen die KMUs das Thema Cloud überhaupt schon wahr?
Ich habe dazu keine Erhebung gemacht, aber ich denke, dass es hier grossen Aufklärungsbedarf gibt. Ich würde sogar sagen, es herrscht grosse Verwirrung. Das kommt auch daher, dass die Angebote eher undurchsichtig, das heisst schwer vergleichbar sind. Was es braucht, sind Fallbeispiele von "Early Adopters", die bei anderen Vertrauen schaffen. Dazu muss noch eine Community kommen, in der sich die Leute persönlich austauschen können. Das zu fördern wäre doch eine schöne Aufgabe für die Wirtschaftsverbände.
Können Sie eine Zeitprognose machen?
Schwierig. In zwei Jahren werden die KMUs noch nicht alle in der Cloud sein. Dieser Innovationsprozess wird seine Zeit brauchen. Aber wenn der Knoten geplatzt ist, wird es gewaltig vorwärtsgehen. Das haben wir bei webbasierten Diensten immer wieder gesehen.

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