Gastbeitrag der ETH Zürich

Wird KI Ärzte überflüssig machen? Nein, sagt Vanessa Rampton, Ex-ETHZ

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von Vanessa Rampton, Ex-ETH Zürich

Wird KI Ärzte überflüssig machen? Nein, sagt Vanessa Rampton, Ex-ETH Zürich. Denn Gesundheit und Krankheit werden stark von emotionalen, subjektiven und sozialen Faktoren beeinflusst, welche für Maschinen nur schwer zugänglich sind

(Source: nyul / Fotolia.com)
(Source: nyul / Fotolia.com)

Hinweis: Vanessa Rampton verfasste diesen Artikel zusammen mit Giatgen Spinas, emeritierter Professor am Universitätsspital Zürich. Die englische Fassung dieses Beitrags wurde im British Medical Journal im Rahmen eines Pro/Contra-Beitrags veröffentlicht. Den Pro-Teil verfasste ETH-Professor Jörg Goldhahn.

Maschinen werden zunehmend in der Lage sein, Aufgaben zu erfüllen, die bisher Ärzten vorbehalten waren. Dazu gehören das Stellen von Diagnosen, Behandlungsvorschlägen, und Prognosen. Obwohl Maschinen die Ärzte unterstützen und deren Fähigkeiten erweitern werden, werden Maschinen Ärzte nie ganz ersetzen. Insbesondere werden die Ärzte weiterhin besser mit dem Patienten als Ganzem umgehen können, denn dazu ist es nötig, soziale Beziehungen und Normen zu verstehen.

Harvard-Professor Francis Peabody umschrieb die Aufgabe von Ärzten 1927 mit folgendem treffenden Beispiel: Es geht darum, «den Fall von Mitralklappenstenose im zweiten Bett links» zu überführen in das weit komplexere Problem von «Henry Jones, der nachts wach liegt, während er sich Sorgen macht um seine Frau und seine Kinder».

Krankheit ist ein schlecht definiertes Problem

Menschen können diese Übersetzungsarbeit leisten, weil sie den Patienten als Mitmenschen wahrnehmen und seine Krankheit und sein Leben ganzheitlich erfassen können. Dazu gehören auch Werte wie Vertrauen, Respekt, Mut und Verantwortung, die für Maschinen nicht leicht zugänglich sind, sowie die Fähigkeit zu assoziativem Denken und Querdenken.

Eine Patientenbeziehung, in welcher der Arzt diese Fähigkeit einsetzt, ist für die Heilung wichtig. Das gilt insbesondere für komplexe Erkrankungen und solche mit einem hohem Risiko für Nebenwirkungen, denn unterschiedliche Patienten haben unterschiedliche Präferenzen, und diese gilt es zu erkennen und berücksichtigen.

Technisches Wissen kann die Krankheitssituation eines einzelnen Patienten nicht vollständig beschreiben, und es gibt keine Algorithmen, welche Emotionen, nonverbale Kommunikation, Werte, persönliche Präferenzen und soziale Gegebenheiten berücksichtigen. Führende Experten für künstliche Intelligenz (AI) in der Medizin anerkennen, dass AI-Ansätze nicht dazu gedacht sind, Ärzte vollständig zu ersetzen.

Emotionale, soziale und nicht-quantifizierbare Faktoren tragen zu einer Krankheit bei. Ein Einsatz künstlicher Intelligenz, der auf dem Glauben basiert, Symptome seien messbar, stösst an Grenzen, wenn man diese Faktoren berücksichtigen möchte. Diese Faktoren sind wichtig: Symptome ohne identifizierte körperliche Ursache sind in den USA der fünfthäufigste Grund, warum Patienten Ärzte aufsuchen. Fragen wie «Warum ich?» und «Warum jetzt?» sind für Patienten von Bedeutung. Es wurde gezeigt, dass Patienten davon profitieren, wenn Ärzte interpretieren können, welche Bedeutung Patienten verschiedenen Aspekten ihres Lebens zuschreiben. Und es kann für Patienten entscheidend sein, das Gefühl zu haben, von jemandem gehört worden zu sein, der die Schwere ihres Problems versteht und dem sie vertrauen können.

Mit Krankheiten umzugehen heisst oft nicht, Krankheiten zu heilen. Hier sind Ärzte unersetzlich.

Vanessa Rampton, Ex-ETHZ

Damit verbunden ist eine grundlegendere Erkenntnis: Das Heilen von Krankheiten erfordert weit mehr als das Heilen bestimmter Körperteile. Per Definition hat die Krankheit einen subjektiven Aspekt, der durch eine vom menschlichen Kontext unabhängige technologische Intervention nicht geheilt werden kann. Einen Organismus von einer Krankheit zu heilen ist nicht dasselbe wie ihn gesund zu machen, da es sich bei Gesundheit um einen komplexen Zustand handelt, der individuelle Erfahrungen beinhaltet: Gesund sein bedeutet, sich gesund zu fühlen. Roboter können den menschlichen Kontext und die subjektiven Faktoren der Krankheit nicht verstehen.

Medizin ist eine Kunst

Die Arzt-Patienten-Beziehung selbst hat eine therapeutische Wirkung, unabhängig von einer verordneten Behandlung, wie mittlerweile anerkannt ist. Denn die Arzt-Patienten-Beziehung ist eine Beziehung zwischen sterblichen Wesen, die beide anfällig sind für Krankheit und Tod. Computer sind nicht in der Lage, Patienten echte Zuwendung oder Sorge zu zeigen, weil sie keine Menschen sind und nichts empfinden.

Zwar ist es denkbar, dass hochentwickelte Roboter eine Form von Empathie zeigen, allerdings nur eine solche, die auch wir Menschen kennen, wenn wir uns in bestimmten sozialen Situationen nett verhalten und dennoch emotional losgelöst bleiben, weil wir nur eine soziale Rolle spielen. Aber Sorge – genauso wie Fürsorge und Respekt – ist ein Verhalten einer Person, die mit einer anderen Person eine gemeinsame Basis hat. Veranschaulichen lässt sich das durch Freundschaft: B kann kein Freund von A sein, wenn A kein Freund von B ist.

Ein wahrscheinliches Zukunftsszenario werden AI-Systeme sein, die mithelfen, neue medizinische Erkenntnisse zu gewinnen, und Ärzte, welche den Patienten helfen, ein Gleichgewicht zu finden, das die menschlichen Grenzen anerkennt, etwas, das für die künstliche Intelligenz unzugänglich ist. Mit Krankheiten umzugehen heisst oft nicht, Krankheiten zu heilen. Hier sind Ärzte unersetzlich.

Links und Referenzen

  • Link zum Beitrag auf der Website der ETH Zürich: ethz.ch

  • Link zum Originalbeitrag auf Englisch: Goldhahn J, Rampton V, Spinas GA: Could artificial intelligence make doctors obsolete? British Medical Journal, 7. November 2018, doi: 10.1136/bmj.k4563

  • Podcast des British Medical Journal mit Vanessa Rampton und Jörg Goldhahn (auf Englisch)

  • Peabody F: The Care of the Patient. JAMA 1927, 88: 878, doi: 10.1001/jama.1927.02680380001001

  • Katz J: The Silent World of Doctor and Patient. Yale University Press 2002.

  • Interview with Joachim Buhmann. Ich fühle mich von künstlicher intelligenz überhaupt nicht bedroht. Forbes, 9. Februar 2017

  • Creed F, Henningsen P, Fink P: Medically unexplained symptoms, somatisation and bodily distress. Developing better clinical services. Cambridge University Press 2011

  • Fioretti C, Mazzocco K, Riva S, Oliveri S, Masiero M, Pravettoni G: Research studies on patients’ illness experience using the Narrative Medicine approach: a systematic review. BMJ Open 2016, 6: e011220, doi: 10.1136/bmjopen-2016-011220

  • Gawande A: Tell me where it hurts. New Yorker, 23. Januar 2018, 23: 36

  • Hofmann B: Disease, illness, and sickness. In: Solomon M, Simon JR, Kincaid H, eds. The Routledge Companion to Philosophy of Medicine 2017: 16

  • Di Blasi Z, Harkness E, Ernst E, Georgiou A, Kleijnen J: Influence of context effects on health outcomes: a systematic review. Lancet 2001, 357: 757, doi: 10.1016/S0140-6736(00)04169-6

  • Wingert L: Unsere Moral und die humane Lebensform. In: Sturma D, ed. Ethik und Natur. Suhrkamp 2019

  • Wingert L: Gemeinsinn und Moral: Grundzüge einer intersubjektivistischen Moralkonzeption. Suhrkamp 1993

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