Interview mit Till Bay, CEO von Comerge

Was agile Softwareentwicklung ausmacht

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In der Managementliteratur macht es als Buzzword die Runde, in der Softwareentwicklung ist es schon längst etabliert: das Konzept der agilen Entwicklung. Till Bay, Gründer und CEO der Zürcher Softwarefirma Comerge, spricht darüber, was dahintersteckt, was kritisierbar ist und wie er die Chancen einer Dezentralisierung des Webs einschätzt.

Till Bay, CEO von Comerge. (Source: zVg)
Till Bay, CEO von Comerge. (Source: zVg)

Sie haben über Kollaboration in der Softwareentwicklung geforscht. Was ist die grösste Schwierigkeit, wenn man miteinander Software schreibt?

Till Bay: Seit man Software miteinander entwickelt, stellt sich diese Herausforderung: Wie bekommt man es hin, dass jeder Entwickler weiss, was in seinem Projekt gerade passiert? Heute arbeitet man mit einer ganzen Reihe an Tools, die dieses Problem lösen sollen. Zum Beispiel Git für die Code-Versionierung, Jira fürs Issue-Tracking und etliche Collaboration-Tools wie etwa Slack und Figma. All diese Programme sollen die Entwickler benachrichtigen, sobald sich etwas ändert. Problematisch wird es allerdings, wenn zu viele Benachrichtigungen auftauchen – und das ist heute der Regelfall. Die grosse Schwierigkeit besteht also darin, aus dieser Flut an Notifications die wichtigen Informationen herauszufiltern und sie in nützlicher Frist zu verarbeiten. Zudem muss man auch mit der schieren Menge an diesen verschiedenen Tools und ihrer Komplexität umgehen können.

Softwareentwickler kämpfen also gegen die Informationsüberflutung, die sie selbst mit verursachen?

Ein Stück weit, ja. Doch wir nehmen dieses Problem in Kauf. Denn die Vorteile der Zusammenarbeit in der Softwareentwicklung überwiegen enorm. Zudem lernen wir, immer besser mit dieser Informationsflut umzugehen. Auch in technischer Hinsicht: Die Tools werden immer besser.

Aber nicht jeder kann mit der Entwicklung dieser Tools gleich gut Schritt halten.

Das ist ein weiterer Knackpunkt. Jüngere Entwickler sind mit diesen Tool-Chains bestens vertraut, ältere müssen sich hingegen einarbeiten. Grundsätzlich hat sich die Produktentwicklung dank der Kollaboration stark beschleunigt.

Erzeugt diese Beschleunigung einen Graben zwischen Entwickler-Generationen?

Von Generationen würde ich nicht sprechen, aber es gibt tatsächlich einen Gap in Bezug aufs Alter. Entscheidend sind allerdings zwei andere Faktoren: Lernbereitschaft und Affinitätslevel. Jeder Entwickler muss sich permanent weiterbilden. Und es kommt darauf an, wie sehr jemand bereit ist, sich in ein bestimmtes Thema zu vertiefen – und dann auch die ganze Bandbreite abzudecken. Es gibt viele junge Entwickler, die sich lieber auf UX-Design fokussieren, statt in die Full-Stack-Entwicklung einzutauchen und dann auch zu lernen, wie man Kubernetes-Cluster orchestriert, Pods skaliert und verteilte Datenbanken verwaltet.

Dreht sich also alles um Kompetenzmanagement?

Es braucht viel mehr als das. Als Informatikfirma hat man auch eine gesellschaftliche Aufgabe, insbesondere in der Schweiz. Man muss richtig kommunizieren, Know-how vermitteln und ausbilden – die eigenen Kolleginnen und Kollegen im Team, aber auch die Kunden und deren User.

Warum ist das in der Schweiz besonders wichtig?

Weil wir in der Schweiz noch nicht den Reifegrad erreicht haben wie andere Länder, wo der Umgang mit digitalen Technologien absolut normal ist. Nehmen wir zum Beispiel Tesla – die Autos sind Mist. Der Leim in der Innenausstattung stinkt, und zwar mindestens ein Jahr lang. Und wer die Sitzpolster in Weiss bestellt und sich mit Blue Jeans hineinsetzt, hat blaue Flecken auf dem Fahrersitz. Das Fahrzeug ist also minderwertiger verarbeitet wie, sagen wir mal, ein deutsches oder ein japanisches Auto. Doch was Tesla bedeutend besser im Griff hat als alle anderen Autobauer, ist der Software-Release-Zyklus. Die machen permanent Updates und finden das völlig selbstverständlich. Genau das fehlt uns: die Vorstellung, dass Software etwas Lebendiges ist; etwas, das wachsen und sich anpassen will und auch muss – wie eine Pflanze in ihrem Ökosystem.

Was braucht es, damit sich diese Haltung etabliert?

Wir brauchen eine neue Managementmethodik. Oder sagen wir: eine Managementkultur, die diesen Gedanken pflegt. Entscheider sollten zunächst einmal verstehen, dass sich gute Softwareprojekte nicht in ein Wasserfall-Modell murksen lassen.

Sie sprechen von agilen Methoden. Was verstehen Sie darunter?

Im Grunde geht es um die Zielsetzung eines Projekts. Es gibt eine Trias zwischen Funktionsumfang, Qualität und Zeit. Zwei dieser Ziele lassen sich fixieren, beim dritten muss man justieren können. Lege ich beispielsweise die Qualität und den Zeitplan von vornherein fest – wie es in der Schweiz üblich ist – dann bleibt das Feature-Set va­riabel. Wenn ich plötzlich mehr Funktionen will, dauert es länger, wird teurer oder es gibt Abstriche bei der Qualität. In der Regel überlegt man sich, welche Features beim Go-live zwingend vorhanden sein müssen, und welche auch später noch hinzukommen können.

Agile Prozesse sind weniger kontrollierbar als Wasserfall-­Projekte. Wie kann man einem Kunden die Angst vor der Ungewissheit nehmen?

Das kann man nicht – zumindest nicht als Entwickler, denn als solcher ist man befangen. Trotzdem sind die Softwarefirmen gefordert. Sie müssen den Kunden zeigen, dass man mit einer sinnvollen Triage zwischen Must-have und Nice-to-have sehr viele funktionierende Features bauen kann, die ihr Geld wert sind. Ein weiterer zentraler Punkt ist die partizipative Entwicklung: Der Kunde macht mit – beim Formulieren der Spezifikationen, beim UX-Design, beim Controlling und Testing.

Das klingt nach einem schwierigen Pitch.

Manchmal ist es das. Viele Organisationen sind mit dem Vorgehen noch nicht vertraut. Meistens hat man vor allem Angst davor, dass die Budgets ausufern. In solchen Fällen hilft es, Referenzen ins Spiel zu bringen. Also einen bestehenden oder ehemaligen Kunden zu bitten, dem Interessenten diese zwei Fragen zu beantworten: Welchen Wert hat das Projekt generiert? Und: Ist man damit zufrieden? Man muss das Vorgehen an seinen Ergebnissen messen lassen. Das stiftet Vertrauen.

Bringt Agilität mehr Effizienz?

Das kann man nicht verallgemeinern. Der springende Punkt ist ein anderer: Durch ein agiles Vorgehen kann man wesentlich schneller auf sich verändernde Geschäftsanforderungen reagieren. Das ist heute wichtiger denn je. Denn Software muss sich permanent und immer schneller an die Umwelt, in der sie lebt, anpassen können.

Der natürliche Feind von agilen Methoden ist demnach Bürokratie.

Absolut. Hinzu kommen Misstrauen, fehlende Experimentierfreude und mangelnde Ausbildung. Wenn drei Viertel einer Organisation nicht bereit sind, den Umgang mit den nötigen Tools zu lernen, kommt man nicht weit.

Was macht den Ansatz angreifbar?

Mit einem agilen Ansatz kann man an einem Punkt angelangen, der anfangs nicht absehbar war, weil man unterwegs viel gelernt hat. In einer Organisation, wo das Management Angst hat vor einem iterativen, ein Stück weit ergebnisoffenen Ansatz, kann es für die Projektverantwortlichen gefährlich werden. Da kann man unter Umständen schnell seinen Job verlieren. Der Schwachpunkt liegt allerdings nicht bei der Methodik an sich. Jedes Unterfangen, das in eine ungewisse Zukunft weist, ist angreifbar.

Das gilt auch für das Web. Anfangs dachte wohl kaum jemand ­daran, dass die ganze Onlinewelt durch Werbung und dem damit verbundenen Nutzer-Tracking finanziert wird. Wie beurteilen Sie das aus heutiger Sicht?

Ich finde es beeindruckend, dass einige Unternehmen und Organisationen heutzutage von sich aus Gegensteuer geben. Nehmen wir zum Beispiel Apple: Die bewirtschaften die ganze Privacy-Thematik als Unique Selling Proposition. Das tun sie natürlich aus Eigeninteresse, stiften dabei aber trotzdem einen Nutzen für die User. Ähnlich ist es mit der Stiftung Myclimate, die CO2-Zertifikate verkauft und damit den Klimaschutz fördert. Ich glaube, man muss solche Vorhaben für die Unternehmen rentabel machen. Andererseits sollten Unternehmen auch begreifen, dass sich der Datenschutz lohnt.

Einige Projekte wollen das Web dezentralisieren, um dem Datenschutz mehr Gewicht zu verleihen. Ein Beispiel ist das MIT-Projekt "Solid" unter der Leitung des WWW-Erfinders Tim Berners-Lee. Wie stehen die Chancen für solche Unterfangen?

Ich verfolge diese Projekte aufmerksam. Bis jetzt haben sie allerdings noch nicht richtig an Fahrt aufgenommen. Und ich bezweifle, dass sich das in naher Zukunft ändert. Die Architektur des Web hat Winner-takes-it-all-Märkte erschaffen. Und die heutigen Gewinner sind derart mächtig, dass jemand wie Tim Berners-Lee keine Chance hat – egal, wie gut seine Idee eines dezentralen Webs klingt. Ein rein ethischer Ansatz führt meiner Ansicht nach nicht in nützlicher Frist zum Ziel.

Warum?

Es reicht nicht, den Mahnfinger zu erheben oder sich auf das zu berufen, was richtig sein soll. Das zeigt die Erfahrung. Wir alle wissen längst, dass man seine Daten nicht auf Facebook teilen sollte – und tun es trotzdem. Oder nehmen wir die Suchmaschine Duckduckgo, die auf das Ausspionieren von Nutzerdaten verzichtet, und dennoch nicht ernsthaft mit Google konkurrieren kann. Den einzigen Ausweg sehe ich darin, die nötigen Anreize zu schaffen. Ein Vorhaben wie die Dezentralisierung des Web hat nur dann eine Chance, wenn es sich mit einem vernünftigen Geschäftsmodell vereinbaren lässt. Das wird wohl noch eine Weile dauern. Trotzdem bin ich zuversichtlich, wenn ich zum Beispiel daran denke, wie sich Microsoft in den vergangenen 20 Jahren in Richtung Open Source bewegt hat.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Webs?

In technologischer Hinsicht lässt schon die Gegenwart nicht viel zu wünschen übrig. Allein die Geschwindigkeit heutiger Webapplikationen ist erstaunlich, wenn man auf die Anfänge zurückblickt. Ich denke zum Beispiel an Cloud-Gaming: Vor wenigen Jahren träumte man noch davon, heute kann man mit einem siebenjährigen Notebook "Cyberpunk 2077" spielen. Das finde ich schon ziemlich cool.

Was sind aus Ihrer Sicht die aufregendsten Trends der Webentwicklung?

Mixed Reality fasziniert mich ganz besonders. Die Technologie findet nun ihren Weg ins Web. Für die Nutzerinnen und Nutzer bedeutet das ein Zugang zu einer Welt, die wesentlich näher an unserer vertrauten Realität liegt. Unsere Augen sind ja im Prinzip ein Stereo-Kamerasystem, das sich dreidimensional orientiert. Die Technologien zur Objekterkennung sind schon dermassen gut, die Rechenleistung schon so hoch, dass wir uns allmählich vom zweidimensionalen User Interface verabschieden und Software in 3-D bauen können. Gleichzeitig sind die Machine-Learning-Modelle so weit fortgeschritten, dass wir Sprach-User-Interfaces entwickeln können, mit denen wir Barrieren im Web abbauen und somit die Accessibility voranbringen können. Das finde ich sehr aufregend.

Webcode
DPF8_215936