Dacadoo-CEO Peter Ohnemus im Interview

KI in der Medizin: Warum die Schweiz hinterherhinkt

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Künstliche Intelligenz wird die Medizin revolutionieren – davon ist Peter Ohnemus überzeugt. Dennoch warnt der Gründer und CEO der Plattform Dacadoo im Interview vor zu hohen Erwartungen. Und er verrät, wie die Schweiz in der KI-Forschung nicht ins Hintertreffen gerät.

Peter Ohnemus, Gründer und CEO von Dacadoo. (Source: zVg)
Peter Ohnemus, Gründer und CEO von Dacadoo. (Source: zVg)

In einem Interview haben Sie uns vergangenen Herbst das Digital Health Engagement Institute vorgestellt. Dabei erwähnten Sie die Bereiche Gamification, Verhaltenswissenschaft, Big Data und Datenverarbeitung. Das Buzzword künstliche Intelligenz kam in dieser Liste nicht vor. Warum nicht?

Peter Ohnemus: Ich bin ein grosser KI-Befürworter und glaube an ihre Zukunft in der Medizin. Wir haben in den vergangenen Jahren grossartige Fortschritte gemacht, etwa in der Bilderkennung, und dies ist nur der Anfang. Meiner Meinung nach wird es keine personalisierte Medizin geben ohne KI. Allerdings wurde das Schlagwort KI in der Vergangenheit auch an Orten eingesetzt, wo es nicht hätte verwendet werden dürfen. Wenn wir das weiterhin tun, wird dies in der akademischen und kommerziellen Welt zu grossen Enttäuschungen führen.

Was meinen Sie damit?

Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: Vor einiger Zeit gab IBM die Lancierung einer medizinischen Version seiner KI-Software Watson bekannt. Damit wollte das Unternehmen Krebs bekämpfen, die Früherkennung verbessern und mit seinen Ergebnissen die medizinische Welt überraschen. IBM hatte viel investiert und viel versprochen. Letztlich wurde daraus nichts, und inzwischen hat IBM die entsprechenden Assets verkauft.

Wo sehen Sie Einsatzmöglichkeiten für künstliche Intelligenz?

Um unser Gesundheitssystem zu entlasten, sollten und müssen wir versuchen, den Kunden im positiven Sinne vom Spital fernzuhalten. Ich bin überzeugt, dass KI hier hilft. Die Möglichkeiten zur Früherkennung und zu sogenannter personalisierter Medizin werden kommen. Dennoch sollten wir die Erwartungen nicht zu hoch schrauben, um auch Rückschläge aushalten zu können.

Sie sprachen sich in der Vergangenheit auch für ­einen neuen Umgang mit Daten aus. Was meinen Sie damit?

Würde jemand von uns heute lebensbedrohlich erkranken, wäre er sofort bereit, all seine Daten zu teilen, damit alles für seine Heilung unternommen werden kann. Solange wir aber gesund sind, geben wir unsere Daten nicht her. Das muss sich ändern. Unserer Pharmabranche geht es im Moment noch gut. Sie ist dank unserer Risikobereitschaft und Neugierde zu dem geworden, was sie heute ist. Um KI-Systeme aber auch weiterhin verbessern zu können, brauchen wir unbedingt mehr Daten. Solange wir die nicht haben, riskieren wir, unsere Führungsposition zu verlieren. Beim elektronischen Patientendossier sind wir bereits 20 Jahre im Rückstand, und im Digital Health Index von Bertelsmann landet die Schweiz auf den hinteren Plätzen.

Welche Länder machen es denn besser als die Schweiz?

In Dänemark zum Beispiel hat man alles auf einer Smartcard und auf dem Smartphone. Passiert ein Unfall, können die Sanitäter zum Beispiel Informationen über meine Blutgruppe und mögliche Krankheiten abrufen. Diese Informationen können Leben retten und Gesundheitskosten senken. Einer Schweizer Rega stehen dieselben Informationen oft nicht zur Verfügung. Ein anderes vorbildliches Land ist Singapur mit seinem Health Promotion Board. Dies ist ein politisch unabhängiges Gremium, das sich für bessere Gesundheit und für ein modernes Gesundheitssystem für alle einsetzt. Gemeinsam mit Apple lancierte es unlängst eine Initiative, bei der Smartwatch-Nutzer entschädigt werden, wenn sie beispielsweise regelmässig Sport treiben.

Wer ist gefordert, damit sich die Datenlage in der Schweiz ändert?

Einerseits sehe ich das Bundesamt für Gesundheit in der Pflicht, das die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben soll. Andererseits – und dies mag eigenartig klingen – ist auch die Finanzmarktaufsicht gefordert. Denn diese legt die Spielregeln für die Schweizer Krankenkassen fest. Sie könnte beispielsweise das Prämienmodell so umgestalten, dass diejenigen belohnt werden, die ihre Daten der Forschung zur Verfügung stellen. Wir wären heute in der Lage, relativ kostengünstig ein enormes gesundheitliches Frühwarnsystem auf die Beine zu stellen. Doch solange die Behörden in der Hand der Politik sind, werden dort keine entsprechenden Entscheidungen getroffen werden.

Das klingt pessimistisch …

Ich drücke mich bewusst pessimistisch aus, weil ich will, dass sich das System bewegt. Als Unternehmer bin ich jedoch immer ein äusserst positiver Mensch. Und es gibt jede Menge erfreuliche Entwicklungen.

Zum Beispiel?

Aus Sicht der Forschung ist beispielsweise Covid-19 ein Riesenerfolg. Binnen relativ kurzer Zeit konnten wir die Zusammensetzung verstehen, Massnahmen und Medikamente entwickeln und den Schaden begrenzen. Dies verdanken wir meiner Meinung nach der Informationsgesellschaft. Wir teilten Informationen digital und verfügten über die leistungsstarken Computer, um sie auszuwerten. Vor 30 Jahren hätten wir bei einer ähnlichen Pandemie Hunderte Millionen Todesopfer gehabt. Positiv stimmt mich auch der Anstieg der Investitionen im Biotech-Bereich. Ich glaube, dass Biotech und Digitalisierung zusammenwachsen werden.

Wie stellen Sie sich das vor?

Heute nehmen wir noch Pillen, wie sie Ärztinnen und Ärzte verschreiben. Künftig werden wir zuhause selbst eine kleine Blutuntersuchung machen können. Danach wird unser Smartphone aufbauend auf unseren Körperwerten uns die passende Dosis nennen.

Kommen wir noch einmal zurück zu den Daten. Christian Lovis, Vorsitzender der Abteilung für Medizinische Informationswissenschaften am Genfer Unispital, sagte vergangenes Jahr in einem Interview, das Problem sei nicht der Mangel an Daten, sondern der Mangel an Interoperabilität. Wie sehen Sie das?

Das ist tatsächlich ein Problem. Im Bereich der EMR (Electronic Medical Records) haben wir sechs bis sieben globale Anbieter mit ihren eigenen Standards. Erfreulicherweise zeichnet sich aber eine Lösung ab, nämlich das FIHR Format V 7.2. Dabei handelt es sich um einen international anerkannten, einheitlichen Standard für Gesundheitsdaten. Ich vergleiche ihn gern mit HTML als Standard für Internetseiten oder GSM und CDMA für Handynetze. Der Standard ermöglicht es, beliebige Gesundheitsdaten mit beliebigen Algorithmen auszuwerten. Ich erinnere mich daran, wie ich vor ein paar Jahren nach einem Skiunfall immer wieder fotografiert wurde, einfach darum, weil die Daten nicht von einer Abteilung in die andere übernommen werden konnten. In 20 Jahren wird dies nicht mehr passieren, dank FIHR.

Sprechen wir wieder über das Hier und Jetzt. Kann man heute als Unternehmer mit KI in der Medizin schon Geld verdienen?

Noch nicht, aber wir sind sehr nahe dran. Wir betreiben bei Dacadoo selbst Datenforschung. Je mehr wir forschen, umso stärker wird die Aussagekraft. Hier rechne ich mit ersten wirtschaftlichen Modellen in den kommenden ein bis zwei Jahren. Das ist aber nur der eine Teil.

Was fehlt noch?

Die Hardware. Einerseits müssen die Sensoren, welche die Daten erfassen, günstiger und kleiner werden. Für den Vertrieb im grösseren Rahmen sind sie im Moment noch zu teuer. Günstiger werden müssen auch die Computer-Power und der Speicher für die KI-Anwendungen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Menschen gehen heute zum Roten Kreuz, um Blut zu spenden. Sie tun dies, weil sie wissen, dass sie damit etwas Gutes tun und der Gesellschaft helfen. Einen ähnlichen Gedanken habe ich für den Umgang mit Daten: Wir sollten unsere Gesundheitsdaten anonym zur Verfügung stellen können, um damit KI-Systeme in der Schweiz besser machen zu können.

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