Editorial

Rechtslage in Schieflage

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René Jaun, Redaktor, Netzwoche. (Source: Netzmedien)
René Jaun, Redaktor, Netzwoche. (Source: Netzmedien)

"Haben Sie denn niemanden, der Ihnen ein wenig hilft?" Es ist eine Frage, die blinde Menschen wie ich immer wieder gestellt bekommen. Ich höre sie oft dann, wenn ich mich bei einem Unternehmen über eine nicht barrierefreie Website oder über ein nicht bedienbares Produkt beklage. Und ich hasse sie, diese Frage. Mein Gegenüber vermittelt mir damit, es habe selbst keine Ressourcen, mir bei meinem Anliegen zu helfen oder seine Dienstleistung barrierefrei anzubieten. Ab und zu bedient es damit auch das Klischee des hilflosen Behinderten: Warum muss der arme Blinde unsere Website selbst besuchen? Wäre es nicht einfacher für ihn, wenn das jemand für ihn machen würde?

Grundsätzlich lege ich grossen Wert auf meine Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Und es ärgert mich, wenn mangelnde Barrierefreiheit mein Bestreben danach behindert. Eine Tätigkeit, bei der ich tatsächlich regelmässig Hilfe brauche, ist das Ausfüllen meiner Wahl- und Abstimmungszettel. Die Schweiz hat zwar seit mehr als 18 Jahren ein Behindertengleichstellungsgesetz und im Bereich ­Barrierefreiheit einige Fortschritte erzielt. Doch nach wie vor können blinde Bürgerinnen und Bürger ihre demokratischen Grundrechte nicht ohne fremde Hilfe ausüben.

Noch schlimmer: Sich beim Ausfüllen des Stimmzettels helfen zu lassen, scheint – zumindest laut dem Portal "ch.ch" – nicht überall erlaubt zu sein, denn: "Dass jemand für jemand anderes den Stimm- oder Wahlzettel ausfüllt, ist verboten", und nur "in gewissen Kantonen" gebe es eine Ausnahmeregelung, falls die abstimmende Person "schreibunfähig" ist. Was blinde Menschen in den Kantonen ohne diese Ausnahme machen sollen, steht nicht auf dem Portal. Und selbst wenn sich blinde Menschen beim Abstimmen und Wählen Hilfe holen dürfen: Das vielgepriesene und rechtlich zugesicherte Stimm- und Wahlgeheimnis geht damit für sie verloren. Kurz: Hier ist die Rechtslage in Schieflage.

Angesichts dessen kann ich es voll und ganz verstehen, dass der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband unlängst eine möglichst rasche Einführung von E-Voting forderte. Das System bedeute "Hoffnung auf eine baldige autonome Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen", schreibt die Organisation. Derweil hat sich der Nationalrat schon mal für taktile "Abstimm-Schablonen" ausgesprochen. Blinde Menschen sollen damit zumindest ihre Ja- und Nein-Kreuzchen selbstständig machen können.

Ich kann mit beiden Ideen nicht recht warm werden. So ermöglichen mir Schablonen zwar das Setzen von Kreuzchen. Meinen Stimmzettel überprüfen kann ich nach wie vor nicht, und spätestens bei Wahlen nützt die Schablone nichts mehr. Und E-Voting wäre zwar eine sehr gute Sache, wäre da nicht das flaue Gefühl, das mich beim Lesen des vom Bund veröffentlichten Testberichtes zum E-Voting-System der Post beschleicht: "Insbesondere sind für die Sicherheit mitentscheidende Aspekte teilweise noch nicht genügend klar dokumentiert, sodass offenbleibt, wie das System in den entsprechenden Punkten funktionieren soll", heisst es in Bezug auf die Verifizierbarkeit unter Wahrung des Stimmgeheimnisses.

Ich vermute, dass es noch recht lange dauern wird, bis blinde Menschen wirklich autonom abstimmen und wählen können. Ich hoffe, die Schweiz findet eine Lösung, uns dies zu ermöglichen. Und wenn sie es alleine nicht kann, hoffe ich, sie hat jemanden, der ihr dabei ein wenig hilft.

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