Tag 1 des Swiss eHealth Forums 2023

Das EPD, der Gold Rush und fürstliche Expansionspläne

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von Maximilian Schenner und cka

Am 29. und 30. Juni findet in Bern das Swiss eHealth Forum statt. Im Fokus steht die Digitalisierung im Gesundheitsbereich und damit - natürlich - das elektronische Patientendossier. Am ersten Eventtag gab es ausserdem Praxisbeispiele für Digitalisierung in der Psychiatrie und einen Blick in unser kleinstes Nachbarland.

Am 29. Juni 2023 ging in der Bernexpo der erste Tag des Swiss eHealth Forum über die Bühne. (Source: Severin Nowacki)
Am 29. Juni 2023 ging in der Bernexpo der erste Tag des Swiss eHealth Forum über die Bühne. (Source: Severin Nowacki)

Die zweite Hälfte der Infosociety Days 2023 steht im Zeichen der Gesundheit. Auf dem Gelände der Bernexpo findet am 29. und 30. Juni das Swiss eHealth Forum statt. Motto des Events war "Digitalisierung - jetzt wird umgesetzt?!". Am ersten Forumstag verschwanden jedoch nicht alle Fragezeichen rund um die Digitalisierung des Schweizer Gesundheitssystems.

Erster Redner des Forums war Roland Blättler. Das Vorstandsmitglied der Vereinigung Gesundheitsinformatiker Schweiz bediente sich zum Auftakt an einer Analogie aus seinem Eröffnungsmonolog des letztjährigen eHealth Forums. Er verglich die Informatik im Gesundheitswesen mit einem Kreuzfahrtschiff: Der Kapitän auf der Brücke gibt die Kommandos, er selbst als Informatiker sitzt im metaphorischen Maschinenraum. Insgeheim träume er jedoch von einem supermodernen Cockpit, in dem alles digitalisiert ist. 

Roland Blättler, VGI.ch
Roland Blättler, Vorstandsmitglied der Vereinigung Gesundheitsinformatiker Schweiz. (Source: Severin Nowacki)

Positive und negative Beispiele für die Digitalisierung

Es lohne sich, genau hinzuschauen, wie stark digitalisiert man ist, sagte Blättler. Im Gesundheitswesen sieht er die Digitalisierung ambivalent. Ein positives Beispiel liefere dabei die Radiologie: Verordnung und Anmeldung für einen Termin erfolgen im KIS (Klinik-Informationssystem), Beauftragung und Verwaltung mithilfe des RIS (Radiologieinformationssystem), die Worklist auf mehreren verschiedenen Medtech-Geräten. Bildgebung und Speicherung werden über das PACS (Picture Communication and Archiving Systems; zentrales Bildmanagementsystem für radiologische Aufnahmen) verwaltet, Erstellung und Versand des fertigen Berichts erfolgen ebenfalls vollständig digital.

Ein Gegenbeispiel kommt aus der Pflege, wie Blättler erklärte. Dort gebe es neue Blutdruckmessgeräte, die sogar mit WLAN ausgestattet sind. Die gemessenen Werte könnten im KIS aufpoppen. In der Praxis drucken die Messgeräte eine Art Barcode aus, der anschliessend erst wieder eingescannt und in die entsprechenden System eingespielt werden müsse. Dies sei wesentlich umständlicher, aber bequemer, sagte Blättler - und: "Es funktioniert."

Der Informatiker kam später auf ein Projekt zu sprechen, das vor zehn Jahren auf dem eHealth Forum noch in aller Munde gewesen sei: das Zuweiserportal. Inzwischen spricht niemand mehr darüber. Blättler zog Parallelen zum "Gold Rush" in Kalifornien Mitte des 19. Jahrhunderts: "Reich geworden sind die, die Schaufeln verkauft haben. Die, die Gold gefunden haben, sind leider nicht reich geworden."

Zum Schluss seines Vortrags präsentierte Blättler noch einige seiner persönlichen Thesen für das Gesundheitswesen: "Klein verschwindet, gross gewinnt", "Standardisierung schlägt Föderalismus" und "schnell frisst langsam". Ausserdem gab er den Anwesenden mit auf den Weg: "Geben Sie nicht auf, der Weg ist lang, hart und steinig."

Eine API für die Forschung

Nicolas Bünger und Benedikt Herzog präsentierten das Health Data Repository (HDR) for Data Driven Clinical Research. Beide sind Data Engineers an der Uniklinik Balgrist, einem orthopädischen Spital in Zürich. Wie der Name des Projekts verrät, geht es darum, der Forschung über eine Plattform Gesundheitsdaten bereitzustellen.

Die Konkrete Vision des HDR sei es, eine API zu schaffen, um direkt auf Daten der Primärsysteme zuzugreifen, und ein Repository zu erstellen, um die Daten strukturiert abzulegen. So wolle man "Forschern strukturierte Daten in standardisierter Form bieten", erklärten die beiden Referenten. Das Forschungszentrum Loop Zürich nutze das Konzept bereits, um Daten zwischen vier Universitäten auszutauschen.

Ein Zwergstaat macht es nach - und vor

Wie die Digitalisierung im Gesundheitswesen anderswo abläuft, schilderte anschliessend Christian Wolf. Er ist Vorsitzender des Vereins eHealth Liechtenstein und Co-Projektleiter für das elektronische Gesundheitsdossier (EGD), wie das EPD im Fürstentum heisst - es ist ab 1. Juli 2023 verpflichtend für alle Einwohnerinnen und Einwohner.

Auch wenn es "Gesundheitsdossier" heisst und nicht "Patientendossier", stehe dabei der Patient im Vordergrund, betonte Wolf. Der Name sei schlichtweg ein Marketing-Gag, sagte er augenzwinkernd. Wolf erklärte zunächst, was das EGD nicht ist: nämlich ein System, um bestehende B2B-Prozesse zu ersetzen. Es sei auch nicht die Summe aller elektronischen Krankengeschichten - es gehe nur um "behandlungsrelevante Daten". Mehr dazu später.

Der erste Anlauf sei zwischen 2016 und 2020 erfolgt, sagte Wolf. Er bezeichnete das erste EGD als eine "EPD-geprägte Lösung", die nicht alle Fragen löste, die hätten gelöst werden müssen”. Zudem hätten die gesetzliche Grundlage und die nötige Unterstützung aus der Politik gefehlt.

Christian Wolf, eHealth LI

Christian Wolf, Vorsitzender des Vereins eHealth Liechtenstein und Co-Projektleiter für das elektronische Gesundheitsdossier (EGD). (Source: Severin Nowacki)

Das eGDG, das Gesetz für das zweite und aktuelle EGD, trat schliesslich Anfang 2022 in Kraft. Die Teilnahme ist für alle Gesundheitsdienstleister - stationär wie ambulant - verpflichtend, wie Wolf erklärte. Ebenso werde für alle versicherten Personen in Liechtenstein ein Dossier angelegt. Sie verfügen jedoch über ein Widerrufsrecht, wie dies aktuell auch in der Schweiz diskutiert wird. Kurz gesagt: "opt-out" statt "opt-in". Die Datenhoheit liege aber bei dem oder der versicherten Person, strich Wolf hervor. Die Person könne einzelne Daten im Dossier nach Wunsch löschen, verbergen oder dieses eben vollständig widerrufen.

Das ganze Gesetz umfasst nur zehn Seiten, wie Wolf dem erstaunten Publikum demonstrierte. Die entsprechende Verordnung, die ein Jahr nach dem Gesetz, also Anfang 2023 in Kraft trat, sei noch kürzer. Gewisse Punkte seien damit natürlich noch nicht geklärt, so Wolf - das schlanke Gesetz bringe aber auch Vorteile. So könnten Ärzte, Apotheker und Co. selbst definieren, was sie unter dem Begriff "behandlungsrelevante Daten" verstehen.

Liechtenstein frisst die Schweiz (noch) nicht

Die Nutzerzahlen seien bislang noch überschaubar, gestand Wolf. Dies wird sich wohl per 1. Juli ändern, wenn das EGD eben verpflichtend wird. In der Funktionalität liege die Lösung hinter jenen in Österreich, Dänemark oder Estland, sagte Wolf weiter. Einen Vergleich mit dem Schweizer EPD wollte er sich - in einem Raum voller Schweizerinnen und Schweizer mitten in der Schweizer Bundestadt - nicht anmassen.

Bei der anschliessenden Fragerunde aus dem Publikum nahm ein Gast Bezug auf die Aussage "schnell frisst langsam" aus dem Eröffnungsreferat und fragte, ob hier nicht das Gegenteil der Fall sei. Schliesslich habe Liechtenstein abgewartet und beobachten können, was andere Staaten im EPD-Bereich machen. "Ich weiss worauf Sie hinaus wollen: Liechtenstein frisst die Schweiz?", sagte Wolf augenzwinkernd. Er werde den Fürsten nach derartigen Expansionsplänen fragen, scherzte er weiter. Das Fürstentum habe aber definitiv von den Beispielen in der Schweiz und Österreich sowie von der engen Zusammenarbeit mit diesen Ländern profitiert.

So ehrlich wie Wolf über die funktionalen Schwächen des EGD war, so bedeckt gab er sich hinsichtlich der Finanzierung. Er sprach von Kosten im "sechsstelligen Bereich" für das Initialprojekt sowie von jährlichen Kosten "im tiefen sechsstelligen Bereich". 

"Man kann mich gut triggern, indem man vom Elfenbeinturm spricht."

Zurück in die Schweiz: Nach einer kurzen Pause war Gian-Reto Grond am Wort, Leiter der Sektion Digitale Gesundheit des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Er eröffnete mit einem kurzen Blick auf den Status quo: "Das EPD funktioniert." Stand heute gebe es 20'000 Dossiers. "Halb Liechtenstein hätten wir also abgedeckt", scherzte Grond. Nun stehe die Revision an.

Diese Woche startete im Bundesrat die Vernehmlassung dazu. Das EPD erfinde sich dabei nicht neu, verdeutlichte der Sektionsleiter. Aber: "Wenn es Sachen gibt, die funktionieren, übernehme ich die doch", sagte er, auch in Bezug auf das Liechtensteiner Beispiel.
Gefragt, ob sein Postfach aufgrund der Vernehmlassung schon übergehe, sagte Grond: "Bis jetzt ist es noch ruhig." Er habe lediglich die Frage nach einer Verlängerung der Frist bekommen. "Die Antwort ist nein." 

Gian-Reto Grond, BAG
Gian-Reto Grond, Leiter der Sektion Digitale Gesundheit, Bundesamts für Gesundheit (BAG). (Source: Severin Nowacki)

Teil der Revision ist unter anderem die Frage der Freiwilligkeit für Patientinnen und Patienten, eine Verpflichtung für ambulant tätige Gesundheitsfachpersonen sowie "das EPD als Instrument der obligatorischen Krankenpflegeversicherung". Auf die Frage, was letzterer Punkt konkret bedeute, gab Grond keine eindeutige Antwort, versicherte jedoch: "Versicherer haben bestenfalls Schreibrecht, never ever Leserecht." Nun müsse man gemeinsam mit den KVs eine sinnvolle Lösung finden.

Im Zuge seines Vortrags wehrte sich Grond auch gegen Vorwürfe, das BAG würde vieles von oben herab entscheiden: "Man kann mich gut triggern, indem man vom Elfenbeinturm spricht." Schliesslich appellierte er an das Publikum: "Gehen Sie ein EPD eröffnen. Dann können Sie mitreden. Und dann sehen Sie vielleicht auch Punkte, die nicht funktionieren."

Nach dem EPD ist vor DigiSanté

Nach Grond kam Martine Bourqui-Pittet auf die Bühne, Leiterin von eHealth Suisse. "Nach der Einführung EPD ist vor dem Programm DigiSanté", sagte Bourqui-Pittet. DigiSanté ist das Programm des EDI zur Förderung der digitalen Transformation im Gesundheitswesen im Auftrag von Bundesrat und BAG. Die Umsetzung ist ab 2025 geplant. Die Referentin sprach diesbezüglich von einer "Weltreise", die bevorstehe - es sei jetzt an der Zeit, diese zu starten.

Warum Martine Bourqui-Pittet trotz holperigem Start keinen Relaunch des EPD in Betracht zieht, lesen Sie übrigens im grossen Interview mit der Netzwoche.

Ein Whiteboard, aber digital

Letzte Rednerin des Vormittags war Ulrike Burkhardt. Sie war an der Entwicklung von Clienia beteiligt, einem digitalen Stationsboard für die Psychiatrie. Die Lösung finde derzeit in 30 Stationen von Clienia Anwendung. Dabei werden 50 bis 75 Prozent der Daten automatisiert aus dem KIS gezogen. Sie dient der Organisation der Arbeitsabläufe auf psychiatrischen Stationen - Schichten, Patientenzuteilung, Therapieeinheiten. Vor der Einführung der digitalen Lösung basierte dies auf physischen Whiteboards mit Marker-Skizzen und farbigen Magneten.

An genau diesen Whiteboards habe sich Clienia auch in der Entwicklung orientiert, sagte Burkhardt. Das Projektteam habe die bestehenden Whiteboards vieler Stationen analysiert und gute wie verbesserungswürdige Eigenschaften zusammengefasst. Je nach Standort seien die Boards sehr unterschiedlich, teilten sich aber die folgenden Punkte: Sie bieten eine Patientenübersicht auf einen Blick, zeichnen sich durch hohe Veränderbarkeit und Unabhängigkeit aus, seien visuell stark und zudem ausfallsicher. All diese Attribute wollte man natürlich auch für die digitale Lösung übernehmen, sagte Burkhardt.

Ulrike Burkhard, Clienia

Ulrike Burkhardt demonstriert Clienia, ein digitales Stationsboard für psychiatrische Einrichtungen. (Source: Severin Nowacki)

Negativ seien dem Team hingegen Effizienz, Datenqualität und -breite sowie Lesbarkeit der Whiteboards aufgefallen. Zudem sei der Zugriff stark örtlich gebunden und die Visualisierung - wie bereits erwähnt - nicht standardisiert. "Was wir bewahren wollten, haben wir bewahrt, was wir verbessern wollten, haben wir verbessert", sagte die Clienia-Mitarbeiterin. Die Lösung sei offen angelegt, sodass ausser dem KIS auch weitere Quellsysteme angeschlossen werden könnten. 

Der Rollout startete laut Burkhardt im 1. Halbjahr 2023 und ist inzwischen fast abgeschlossen. Auch hier stehe bald eine Evaluierung an. Diese passiere aber nicht erst am Ende, sondern über den gesamten Prozess hinweg, sagte Burkhardt. Das digitale Whiteboard soll jedoch das physische Whiteboard nur ergänzen, nicht gänzlich ersetzen.

Die erste Hälfte der Infosociety Days stellte übrigens das Swiss E-Government Forum dar. Eine Zusammenfassung des ersten Eventtags finden Sie hier. Was es am zweiten Forentag zu hören gab, erfahren Sie hier.
 

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