Künstliche Intelligenz in der Medizin - zwischen Vision und Realität
Ob bei der Diagnose von Krebs, der Analyse von Röntgenbildern oder in der Notfallversorgung - künstliche Intelligenz verspricht mehr Tempo, Präzision und Effizienz in der Medizin. Doch wie viel von dieser Technologie hat bereits den Weg in den Klinikalltag gefunden? Und wo stösst KI an ihre Grenzen?

Künstliche Intelligenz (KI) gilt als eines der vielversprechendsten Werkzeuge der modernen Medizin. Sie analysiert riesige Datenmengen in Sekundenschnelle, unterstützt Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnosefindung und soll langfristig helfen, Behandlungen individueller und effizienter zu gestalten. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Integration von KI in den klinischen Alltag mit hohen Anforderungen verbunden ist. Um das Potenzial und die Grenzen dieser Technologie besser einordnen zu können, lohnt sich ein Blick auf konkrete Einsatzbereiche, aktuelle Entwicklungen und die Einschätzungen aus Forschung und Praxis. Dabei zeigt sich, wo KI in der Medizin bereits messbaren Nutzen bringt - und wo sie hinter den Erwartungen zurückbleibt.
Radiologie als Paradebeispiel
Ein zentraler Bereich, in dem KI bereits heute eine wichtige Rolle spielt, ist die Radiologie. Ob Mammographie, Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT): Künstliche Intelligenz soll Diagnosen präzisieren, Prozesse beschleunigen und das medizinische Personal entlasten. "KI kann vorrangig dabei helfen, Anomalien wie Verkalkungen der Herzgefässe oder auch Läsionen zu erkennen und auszumessen", erklärt Martin Michael Huber, Business Manager Digital & Automation bei Siemens Healthineers, im Interview. Besonders in der Bildgebung könne KI beim frühzeitigen Erkennen von pathologischen Veränderungen dem Ärzteteam die Arbeit erleichtern.
Martin Huber, Business Manager Digital & Automation bei Siemens Healthineers. (Source: zVg)
Doch Mediziner setzen KI nicht nur bei der Bildanalyse ein. Bereits bei der Bildaufnahme selbst kann sie Prozesse optimieren. Mithilfe von KI-gestützter Bildrekonstruktion lässt sich etwa beim MRT die Dauer einer Untersuchung erheblich reduzieren. "Eine Knieuntersuchung auf einem 3-Tesla-Gerät ist in zwei statt zehn Minuten möglich", merkt Huber an. Ausserdem trage ein KI-basiertes System zur automatisierten Positionierung der Patientinnen und Patienten dazu bei, die Bildqualität zu verbessern und den Bedarf an erneuten Scans - und damit auch die Strahlenbelastung - zu verringern.
Chancen der personalisierten Medizin und interpretierbaren KI
Kerstin Lenhof, Postdoktorandin am Departement of Biosystems Science and Engineering der ETH Zürich, ergänzt diese Sichtweise mit einem Fokus auf die personalisierte Medizin: "KI eröffnet die Möglichkeit, medizinische Entscheidungen stärker zu personalisieren, indem sie individuelle Patientendaten mit dem gesamten aktuellen medizinischen Wissen verknüpft."
Lenhof hebt insbesondere den Bereich der interpretierbaren KI hervor - sie helfe, die zugrundeliegenden biologischen Zusammenhänge besser zu verstehen und könne so neue medizinische Hypothesen generieren, die nachfolgend experimentell überprüft werden müssten. "Im besten Fall kann KI so dazu beitragen, unser medizinisches Wissen so weit zu vertiefen, dass wir in bestimmten Bereichen zunehmend auf fundiertes Wissen zurückgreifen können - unterstützt durch KI, aber weniger abhängig von ihr."
Kerstin Lenhof, Postdoktorandin am Departement of Biosystems Science and Engineering an der ETH Zürich. (Source: zVg)
KI ist keine Wunderwaffe
Simon Schwab, Senior Statistician bei Swisstransplant, sieht den KI-Einsatz schon deutlich kritischer. "Viele glauben, maschinelles Lernen beziehungsweise künstliche Intelligenz liefere automatisch bessere Ergebnisse, selbst bei überschaubaren klinischen Datensätzen, als ob es eine Art Wunderwaffe wäre", sagt Schwab. Diese Annahme sei jedoch "ein weit verbreiteter Irrglaube".
Zahlreiche Studien würden zeigen, dass maschinelles Lernen und KI bei vorliegenden klinischen Daten den klassischen statistischen Modellen oft nicht überlegen seien. Eine aktuelle Studie der Universität Bern und des Inselspitals etwa, veröffentlicht in der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet Digital Health", untersuchte die Wirksamkeit eines KI-gestützten Diagnosesystems in der Notfallmedizin und stellt fest: Ein messbarer Vorteil gegenüber herkömmlichen Diagnoseverfahren ist nicht nachweisbar.
Das Potenzial künstlicher Intelligenz liege vor allem in Bereichen, wo eine hohe technische Qualität von Bildsignalen sowie grosse Datenmengen vorliegen, beispielsweise in der zuvor erwähnten Bildgebung. Doch genau hier zeigt sich laut dem Statistiker das Problem: Im Gegensatz zu Meta und Google verfügen hiesige Krankenhäuser nicht über solche riesigen Datenmengen, sondern haben lediglich die Daten weniger tausend Patienten zur Verfügung. Der wahre Nachteil der KI-Methoden ist demnach ihre enorme Datenhungrigkeit.
Das ganze Interview mit Kerstin Lenhof können Sie hier als Video anschauen.
Kerstin Lenhof betont die Komplexität der für KI-Algorithmen notwendigen Datensätze gerade bei Krebs, einer Erkrankung, die trotz grosser Datenmengen auf molekularer Ebene extrem individuell ist: "Trotz der grossen Datenmengen fehlen uns oft genau die Daten, die wir eigentlich bräuchten, um wirklich personalisierte Muster zu erkennen." Viele relevante Parameter für die personalisierte Therapie würden fehlen, weil es schlicht unmöglich sei, alle Therapien an Patienten auszuprobieren. Deshalb kämen in der Onkologie Modellsysteme zum Einsatz, um Hypothesen zu generieren, wie etwa Zelllinien oder künstlich erzeugte, organähnliche Mikrostrukturen. "Diese Daten sind wertvoll, aber sie sind eben nicht identisch mit echten Patientendaten."
Datenqualität als Schlüssel zum Erfolg
Damit KI-Algorithmen zuverlässig funktionieren, ist die Qualität der zugrundeliegenden Daten entscheidend. Zur Vermeidung von Verzerrungen (Bias) bezieht man die Datensätze vorzugsweise in möglichst vielfältiger und voranonymisierter Form. "Um zuverlässige und vertrauenswürdige KI-Algorithmen zu entwickeln, ist es entscheidend, eine ausgewogene Repräsentation der Zielbevölkerung aufzuweisen - einschliesslich Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit und Gesundheitszustand", erläutert Huber von Siemens Healthineers. "Diese Annotationen sind entscheidend für die Entwicklung genauer und zuverlässiger KI-Modelle."
Denn das "Garbage in, Garbage out"-Prinzip gilt auch in der Transplantationsmedizin, wie Simon Schwab verdeutlicht: "In der Transplantationsmedizin haben wir dank des Schweizer Transplantationsgesetzes zum Glück hochwertige Daten. Schwierig wird es, wenn wir auf undurchsichtige Algorithmen setzen - sogenannte Black Boxes." Derartige Algorithmen seien oft schwer nachzuvollziehen und würden dadurch die notwendige Transparenz verlieren.
Simon Schwab, Senior Statistician bei Swisstransplant. (Source: zVg)
Transparenz für Vertrauen
Auch Lenhof von der ETH Zürich betont die Relevanz von Transparenz - unterscheidet dabei jedoch klar zwei Ebenen: Zum einen gehe es um die Interpretierbarkeit der KI-Modelle selbst, also ob sich ihre Entscheidungen biologisch nachvollziehen lassen. Ausserdem gebe es Methoden, die nachträglich Erklärbarkeit schaffen, sodass Modelle nachvollziehbarer werden. "Gerade bei medizinischen Fragestellungen kann man aber gezielt darauf hinwirken, dass Modelle von vornherein transparenter sind - zum Beispiel, indem man bereits bekanntes biologisches Wissen in die Modellstruktur integriert", fügt die Postdoktorandin hinzu. Zum anderen brauche es Transparenz über die Herkunft und Zusammensetzung der Trainingsdaten. Beide Dimensionen seien entscheidend, um Vertrauen in KI-Systeme zu ermöglichen.
Insbesondere in Hinblick auf Phänomene wie Overfitting spielen die Qualität und Eignung der Daten eine bedeutende Rolle. Der Statistiker Schwab warnt in diesem Zusammenhang: "Werden zu komplexe Modelle auf zu kleine Datensätze angewendet, entsteht eine Überanpassung der Daten, und die Ergebnisse sind viel zu gut, um wahr zu sein." Das wirke sich negativ auf die tatsächliche Vorhersagegenauigkeit aus.
Auch in der Onkologie stellt Overfitting ein ernstzunehmendes Risiko dar. Gerade bei der Entwicklung individueller Behandlungsstrategien sei die Gefahr besonders hoch, erklärt Kerstin Lenhof. Strategien wie das Vortraining auf grösseren Datensätzen und die Validierung mit unabhängigen Datenquellen seien daher essenziell, um robuste und zuverlässige Modelle zu entwickeln.
Zukunftsperspektiven
Trotz dieser Herausforderungen hat künstliche Intelligenz ein enormes Potenzial in der Medizin. Das gilt insbesondere für den Bereich der multimodalen Datenanalyse, wo Martin Huber in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine zunehmende Integration sogenannter "Foundation-Modelle" erwartet. Diese können "ohne aufwändige manuelle Annotationen trainiert werden und dann als Grundlage für eine grosse Menge von unterschiedlichen Aufgaben dienen", wie der Experte erklärt.
In der Transplantationsmedizin und Organspende scheint die Zukunft von KI allerdings nicht so vielversprechend wie in der Radiologie zu sein. Auf die Frage hin, was passieren müsste, damit KI einen sinnvollen Beitrag zur Transplantationsmedizin leisten kann, äussert sich Simon Schwab von Swisstransplant: "Ich sehe den Einsatz von KI im Bereich der Prognose, also zur Vorhersage bestimmter Ereignisse wie einer bevorstehenden Transplantation oder einem möglichen Organverlust, eher kritisch." Bei der Zuteilung von Organen sei der Nutzen von KI noch fragwürdiger - "nicht zuletzt, weil dies rechtlich ohnehin nicht zulässig wäre", gibt Schwab zu verstehen.
Lenhof hingegen erwartet eine wachsende Rolle von KI als Assistentin bei klinischen Entscheidungen, räumt jedoch ein: "Es braucht allerdings verbindliche Regularien, die sicherstellen, dass unsere sensiblen Gesundheitsdaten geschützt sind, Entscheidungen nachvollziehbar und diskriminierungsfrei getroffen werden - und dass die Frage nach der Haftbarkeit eindeutig geklärt ist."
Kein Ersatz für Menschen
Der Fortschritt künstlicher Intelligenz ist spürbar, aber noch längst nicht grenzenlos. Es bleibt abzuwarten, wie die Entwicklung KI-gestützter Modelle in der Medizin in den nächsten Jahren voranschreitet. Aber in einem Punkt sind sich die Experten einig: Der Mensch bleibt in der Medizin unverzichtbar.
Im Interview mit der Redaktion geht Kerstin Lenhof, Postdoktorandin an der ETH Zürich, noch weiter ins Detail. Lesen Sie hier das ganze Interview.

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