Barrieren im Web

Das Internet – ein exklusiver Club für Sehende

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1,6 Millionen Menschen in der Schweiz sind gesundheitlich beeinträchtigt. Sie sind etwa blind oder taub. Diesen Nachteil gegen­über anderen Menschen bekommen sie vor allem im Internet zu spüren. Doch das wäre vermeidbar.

(Quelle: Fotolia)
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In der Schweiz sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Niemand darf wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung diskriminiert werden. So steht es im Artikel 8 der Bundesverfassung.

Eigentlich sollte dieser Artikel auch für das Internet gelten. Denn für seh-, geh- oder hörbehinderte Menschen ist das Internet oftmals die einzige Möglichkeit, einigermas­sen unabhängig zu leben. Online Informationen von Behörden abrufen oder im Internet etwas bestellen, erspart diesen Menschen den meist umständlichen Weg aus dem Haus. Die Realität sieht aber anders aus.

Beeinträchtigte Menschen stossen im Web auf unzählige Barrieren, die eine Person ohne Beeinträchtigung selten nachvollziehen kann. Ein Blinder sieht nicht, ob ein Eingabefeld ein Such- oder ein Log-in-Feld ist. Einem Gehörlosen bringt ein Video ohne Untertitel nur wenig, da er nur die Hälfte der Informationen erhält.

Barrierefreie Websites sind in der Schweiz nach wie vor Mangelware. In der Schweiz gibt es einige Menschen, die diesen Missstand im Web beseitigen wollen. Einer von ihnen ist Bernhard Heinser. Er setzt sich schon lange für Menschen mit Beeinträchtigung ein. Heinser leitete 16 Jahre lang die Schweizerische Bibliothek für Blinde-, Seh- und Lesebehinderte.

Zertifikate für barrierefreie Websites

Im Jahr 2000 gründete er gemeinsam mit Thomas Schwyter, René Moser, Reto Bulotti und André Assimacopoulos die Stiftung "Zugang für alle". Sie setzt sich für behindertengerechte Technologien und deren Nutzung ein. Als Teil dieses Strebens zertifiziert die Stiftung barrierefreie Websites. "Wir vergeben ein Zertifikat, wenn eine Website die Richtlinien für barrierefreie Webinhalte 2.0 der Web Accessibility Initiative in einer der drei Stufen A, AA oder AAA einhält", sagt Heinser.

Bernhard Heinser (Quelle: Netzmedien)

Die Initiative ist ein Teilbereich des World Wide Web Consortiums. Sie setzt sich für die Barrierefreiheit im Internet ein. Die Buchstaben A, AA und AAA stehen für minimale Zugänglichkeit, gute Zugänglichkeit und sehr gute Zugänglichkeit.

Keine staatliche Unterstützung

"Der Preis für eine Zertifizierung lässt sich schlecht beziffern", sagt Heinser. "Er hängt von verschiedenen Faktoren ab." Von der Komplexität der Websites oder von der fachlichen Kompetenz seitens der am Projekt beteiligten Auftraggeber. "Bei einer komplexeren Website können die Kosten bis zu 10 000 Franken betragen." Die Einnahmen durch die Zertifikate fliessen vollständig in die Stiftung. Denn "Zugang für alle" muss sich zu 100 Prozent selbst finanzieren, wie Heinser sagt. "Wir erhalten keine Subventionen vom Bund."

Letztes Jahr habe die Stiftung sechs Zertifikate für barrierefreie Websites vergeben. "Wir vergeben aber nicht nur Zertifikate, wir beraten viele Unternehmen, die ihre Websites barrierefrei machen wollen." Oder müssen.

Das US-Department of Transportation verlangt seit 2015, dass Fluggesellschaften mit Landerecht in den USA ihre Websites barrierefrei anbieten müssen. "Kommen sie dieser Verpflichtung nicht nach, riskieren sie im schlimmsten Fall, das Landerecht in den USA zu verlieren", sagt Heinser.

Bei uns herrscht ein Durchsetzungsnotstand

Die Fluggesellschaft Swiss und andere internationale Gesellschaften wie etwa die Austria Airlines kamen infolge dieser Regelung auf die Stiftung zu und suchten bei Heinser und seinen Mitarbeitern Rat. So drastische Massnahmen wie in den USA fehlen in der Schweiz. "Bei uns herrscht ein Durchsetzungsnotstand", sagt Heinser. "Unternehmen fühlen sich deshalb wenig verpflichtet, ihre Website barrierefrei zu machen."

Gemäss Artikel 5, Absatz 1 im Behindertengleichstellungsgesetz sind Bund und Kantone verpflichtet, Benachteiligungen von Menschen mit Beeinträchtigung zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen. "Der Bund und auch bundesnahe Betriebe wie die SBB oder die Post geben sich Mühe, sind aber weit davon entfernt, Barrierefreiheit routinemässig in ihren Webangeboten umzusetzen", sagt Heinser.

Er weiss das so genau, weil seine Stiftung regelmässig die Accessibility-Studie durchführt. 2016 erschien sie zum vierten Mal. Die Studienautoren untersuchten 98 Websites. Dazu gehörten Bundesbehörden, bundesnahe Betriebe, Kantone, die zehn grössten Schweizer Städte, Schweizer Hochschulen, Newsportale und Onlineshops. "Das Resultat war ernüchternd", sagt Heinser. "Im Durchschnitt erreichten die getesteten Websites 3,2 von 5 Sternen in der Bewertung. Grund dafür seien fehlendes Wissen und mangelnde Budgets.

Dabei würden eigentlich alle Menschen von ihnen profitieren. Wenn Entwickler das Layout und den Inhalt der Website klar trennen, hilft das nicht nur dem Screenreader eines Blinden. Die Website ist schlanker, und Suchmaschinen wie Google können sie besser durchsuchen.

Die Bildung hinkt hinterher

Ein Mitstreiter von Heinser ist Marc Moser. Er ver­antwortet die Kommunikation von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen der Schweiz. Der Verband wurde 2015 gegründet. Die Verbandsmitglieder setzen sich politisch und rechtlich für die Gleichstellung von Menschen mit Beeinträchtigungen ein.

Marc Moser (Quelle: z.V.g.)

Moser sieht fast überall Verbesserungspotenzial. Bei Betreibern der Websites, bei den Webdesignern und bei deren Ausbildung. Der technische Fortschritt habe die Möglichkeit geschaffen, dass Menschen mit einer Sinnesbehinderung Onlineangebote nutzen könnten, sagt Moser. "Die technischen Möglichkeiten müssen aber von den Anbietern einer Website auch genutzt werden."

Wir schenken dem Thema Barrierefreiheit keine spezifische Beachtung

Moser und Heinser sind sich deshalb einig: In der Schweiz gibt es einen Bildungsnotstand. Viele Programmierer und Webdesigner haben während ihrer Ausbildung kaum etwas oder gar nichts über barrierefreies Webdesign gehört. Wenn sie Glück hätten, würden sie bei ihrem Arbeitgeber zum ersten Mal etwas in dieser Art sehen.

"Wir schenken dem Thema Barrierefreiheit keine spezifische Beachtung", sagt René Hüsler, Direktor des Departements Informatik der Hochschule Luzern. Das Thema würde aber in einzelnen Modulen zu User Experience und Interface Design behandelt, schiebt er nach. In den Abschlussprüfungen der Studierenden an der Hochschule Luzern kommt Barrierefreiheit allerdings nicht vor. Deshalb stimmt Hüsler Heinser zu: "Das Thema Barrierefreiheit wird in den meisten Ausbildungen eher stiefmütterlich behandelt, wenn überhaupt."

Das merken auch die Webagenturen. "Für viele unserer neuen Mitarbeiter und Bewerber ist Barrierefreiheit ein Fremdwort", sagt Osiris Roost, Technikchef bei der Agentur Station aus Zürich. "Wir schulen uns intern selbst und besuchen Vorträge von externen Beratern", sagt Roost weiter. Zu diesen Beratern gehört die Stiftung "Zugang für alle".

Damit Webagenturen wie Station sich künftig auch selbst helfen können, entwerfen Heinser und seine Tester momentan Richtlinien zur Website-Gestaltung. "Der Leitfaden ist für Entwickler in Agenturen gedacht", sagt Heinser. "Es ist ein dyna­misches Online-Tool, das Entwicklern Hilfe zur Selbsthilfe bietet. Es zeigt ihnen, wie sie Barrierefreiheit erreichen können."

Kein Zertifikat und trotzdem barrierefrei

Es gibt Webagenturen, welche die Hilfe der Stiftung zwar in Anspruch nehmen und Websites barrierefrei gestalten. Die Kunden der Agenturen lassen sich am Ende aber kein Zertifikat für ihre Website ausstellen.

"Bei uns sind eher wenige Websites mit Zertifikaten ausgestattet, trotzdem erfüllen sie gewisse Regeln und Kritikpunkte", sagt Hans Meli, Partner und Projektleiter bei der Webagentur Next aus St. Gallen. "Barrierefreies Webdesign ist bei uns seit etwa 2003 ein Thema", sagt Meli. Das Unternehmen veranstaltet ebenfalls interne und externe Schulungen.

Ähnlich sieht es bei der Webagentur Liip aus. "Effektiv zertifizierte Websites haben wir wenige", sagt Jennifer Bächtold, verantwortlich für Marketing und Business Development bei Liip Zürich. "Kunden interessieren sich für die Richtlinien und entsprechend achten wir während der Projekte auch darauf. Die Zertifizierung selbst streben aber die wenigsten unserer Kunden an." Oftmals seien die hohen Kosten der Knackpunkt, sagt Bächtold.

Die Kosten könnten aber bald sinken. Liip entwickelte letztes Jahr die "A11y Machine". "Diese Lösung führt ein automatisiertes Accessibility-Testing durch", sagt Bäch­told. Der menschliche Tester entfalle.

Menschliche Tester unersetzbar

Heinser begrüsst diese Lösung, wenn sie den Aufwand reduziere. Die automatisierte Testbarkeit einer Website sei aber begrenzt. "Weil es eine Maschine ist und kein Mensch", sagt Heinser.

Für sehbehinderte Menschen müsse bei Bildern ein Alternativtext hinterlegt werden. Dadurch kann der Blinde "sehen", was auf dem Bild ist. "Nicht jedes einzelne Bild braucht jedoch einen Alternativtext, sondern nur jene Bilder, die eine nützliche Information enthalten." Ein Mensch könne nachvollziehen, ob eine Hintergrundinformation zu einer Überschrift sinnvoll sei, sagt Heinser. "Das Testtool erkennt dies nicht."

Die Stiftung setzt deshalb auf menschliche Tester. Menschen mit Beeinträchtigung und Menschen ohne Beeinträchtigung. Die Tester gehen strukturiert vor. Sie haben eine Checkliste, die sie abarbeiten.

Ein Punkt betrifft die Navigation einer Website. Die Tester müssen ohne Maus oder Tastatur auf der Website navigieren können.

Dazu ein Beispiel mit Word: Wenn ein Sehender bei einem Dokument einen Titel erstellt und diesen manuell fett macht und eine grössere Schriftgrösse hinzufügt, ist für ihn klar, dass das der Titel ist. Er sieht es ja. Aber für einen Blinden und seinen Screenreader ist das nicht erkennbar. Es ist genau so ein Text, wie alles andere. In Word gibt es Formatvorlagen. Ist der Titel mit der Formatvorlage "Titel" hinterlegt, kann ihn der Screenreader als solchen erkennen.

Die Pflicht der Sehenden

Der Screenreader ist eine Software, die sehbehinderte Menschen unterstützt. Da sie den Bildschirm nicht oder nur schlecht sehen, sagt ihnen der Screenreader, welche Informationen auf dem Bildschirm sind. Die Software erkennt Text und Bild nur, wenn diese auch mit Hintergrundelementen versehen sind, die sie lesen kann. Wie etwa die Formatvorlage in Word.

Gemäss dem Bundesamt für Statistik leben in der Schweiz zurzeit 1,6 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Das ist etwa ein Fünftel der Bevölkerung. Da vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind, muss diese Gleichberechtigung auch im Internet gewährleistet sein.

Es liegt in der Pflicht der Menschen ohne Beeinträchtigung, dieses Ungleichgewicht aufzulösen. Ausserdem profitieren alle Menschen von barrierefreien Websites. Sie sind angenehm zu bedienen und Suchmaschinen können sie besser lesen.

Blind surfen

Screenreader

Einer der bekanntesten Screenreader ist "JAWS". Er ist kostenpflichtig und gibt den Text einer Website per Braillezeile und/oder per Sprachausgabe wieder. Einige Screenreader verfügen auch über eine Vergrösserungsfunktion. Ein weiterer Screenreader ist NVDA. Er ist kostenlos als installierbare oder als portable Version erhältlich. "Zugang für alle" empfiehlt ihn, wenn Unternehmen ihre Website mit einem Screenreader testen wollen.

Braillezeile

Eine Braillezeile des Herstellers Papenmeier (Quelle: Papenmeier)

Die Brailleschrift ist die Punktschrift, mit der blinde Menschen lesen. Ein Zeichen wird mit bis zu sechs Punkten dargestellt. Für den PC wurde speziell die Computerbraille entwickelt. Damit sie Sonderzeichen anzeigen kann, verfügt sie über acht Punkte. Die Braillezeile stellt Computerzeichen in Brailleschrift dar. Es sind jeweils acht Löcher in einem Rechteck angeordnet. Je nach Zeichen drückt die Zeile Punkte aus diesen Löchern, damit sie der Blinde fühlen kann.

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