Aus der aktuellen Ausgabe

"Digital Knowledge Curation wird eines der grossen Themen der nächsten Jahre"

Uhr | Aktualisiert
von Simon Zaugg

Mit Memonic hat er den Durchbruch nicht wie gewünscht geschafft. Jetzt versucht es Start-up-Unternehmer Dorian Selz, heute CEO der Nektoon AG, mit Squirro auf dem Markt für Digital Knowledge Curation. Im Interview erklärt er, wie er das ehrgeizige Projekt angehen will und verrät ein ganz persönliches Ziel.

Patrice Neff, links und Dorian Selz (blaues Hemd) (Quelle: © Ben Huggler)
Patrice Neff, links und Dorian Selz (blaues Hemd) (Quelle: © Ben Huggler)

Herr Selz, wie lebt man als Mitgründer und Mitinhaber eines Schweizer IT-Start-ups?

Es ist anstrengend, spannend und herausfor­dernd. Die Nektoon AG ist nach Namics und Local.ch bereits mein drittes Start-up, an dem ich beteiligt bin. Es war jedes Mal ein anderer Fall: Namics verkauft Zeit, Local.ch verkauft Werbung und mit Memonic und unserem neuen Produkt Squirro sind wir im Produkt­geschäft tätig. Das sind drei ganz unterschied­liche Facetten des digitalen Geschäfts.

Der grosse Unterschied ist, dass die ersten zwei Start-ups aus der Schweiz auf den Schweizer Markt abzielten. Mit Memonic haben wir ein Angebot aus der Schweiz für den weltweiten Markt lanciert. Das ist eine echt harte Nuss, wie wir bisher auf die durchaus harte Tour erfahren mussten.

Was heisst das konkret?

Bei Local.ch haben wir einen neuen Such­dienst aufgebaut. Das haben wir von Grund auf gemacht und gegen Player wie Google bestanden, die auch lokale Suchdienste anbie­ten. Die lokale Verankerung hat uns damals geholfen. Wir hatten eine lokale Distribution und fanden mit Swisscom einen starken loka­len Partner.

Für Memonic hatten wir keinen Distributionskanal und keinen grossen Heim­markt. Bei der Lancierung eines weltweiten Angebots von der Schweiz aus muss man sich genau dies zuerst einmal aufbauen. Und wir haben hier kein Silicon Valley. Das heisst für uns wiederum, dass wir umso härter arbei­ten müssen, um auf einen grünen Zweig zu kommen.

Wir haben unser Start-up über die ersten eineinhalb Jahre komplett selbst finan­ziert. Dann konnten wir 2010 ein Business-Angel-Investment von einer Million Franken organisieren. Hinter dem Investment standen die Berner Hasler-Stiftung, Hoepfner Bräu aus Karlsruhe und die Zürcher Kantonalbank.

Sie fassten dann neben dem B2C- auch im B2B-Markt Fuss und haben das Produkt weiterentwickelt. Um was ging es da konkret?

Erstens begannen wir damit, Memonic in Nischen zu tragen und die Einbindung in Drittapplikationen anzubieten, zum Beispiel mit Memonic for Salesforce. Auch das haben wir mit Erfolg getan und Auszeichnungen dafür erhalten. Memonic for Salesforce war die erste App für Salesforce aus Europa, die an der Dreamforce, der grossen Salesforce-Anwendermesse in San Francisco, im ver­gangenen Jahr ausgezeichnet wurde. Wir bekommen regelmässig Anfragen von grossen internationalen Plattformbetreibern, ob sie uns in ihre Cloud-Offerings einbauen dürfen.

Zweitens haben wir noch einmal hart am Produkt gearbeitet. Im Moment sieht es jedoch so aus, dass Evernote in diesem B2C-Markt in den nächsten zwei bis vier Jahren das Rennen machen wird. Es wird aber auch ein Leben danach geben, genauso wie das auch für Social Media oder Suchmaschinen gilt. Es gab Social Networks, bevor Facebook kam – und es wird Social Networks nach Face­book geben. Es wird auch Suchdienste nach Google geben. Es handelt sich um eine tem­poräre Dominanz.

Weshalb hat sich Evernote denn im B2C-Markt durchgesetzt und nicht Memonic?

Um Erfolg zu haben, braucht es drei Dinge: eine gute Idee, ein gutes Produkt und einen entsprechenden Markt dafür. Als wir begon­nen haben, über Digital Notetaking nachzu­denken, gab es noch kein Evernote, Springpad oder Catch.com. Wir identifizierten damals einen Markt, der heute ein geschätztes Markt­potenzial von mehreren Milliarden Dol­lar hat.

Die Idee war also schon einmal gut. Kurze Zeit später haben dann auch andere diesen Markt entdeckt. Diese Akteure haben jedoch einen viel grösseren Heimmarkt und einen sehr viel besseren Zugang zu Finan­zierungsquellen. Wir sind dagegen in einem unterkritisch grossen Markt mit unterkritisch grosser Risikokultur und einem Mangel an qualifizierten Fachkräften tätig.

Wie stehen Sie mit Memonic heute bezüglich Anzahl Nutzern da?

Wir haben ein paar 100 000 Nutzer und eine Free-to-Pay-Conversion-Rate von 8 Prozent. Das ist weit über dem Durchschnitt. Unser grösster Konkurrent hat eine Rate von 3 Pro­zent. Das zeigt, dass wir auch beim Produkt sehr gut abschneiden.

Die Idee ist gut, das Produkt auch – dann hapert es also beim Markt.

Es ist eine Tatsache, dass man in der Schweiz relativ schnell einmal Geld verdienen muss. Dass heisst, ein aggressiver Marktaufbau ohne Fokus auf den operativen finanziel­len Erfolg ist kaum möglich. Ich kenne kein Schweizer Start-up, das über fünf oder sechs Jahre hinweg mehrere Millionen Franken Investitionen bekommen hat, ohne dass es Geld verdienen musste. Das gibt es hier ein­fach nicht.

Doch ich bin auch froh, dass hier Fälle wie zuletzt jener mit Instagram nicht vorkommen: Die Jungs haben noch keinen Cent verdient und auch keinen Plan, wie das geschehen soll. Jetzt wurden sie mit einer Milliarde Dollar bewertet. Das suggeriert, dass jeder der 13 Mitarbeiter etwa 80 Milli­onen Dollar wert ist. Da stimmt das Verhält­nis nicht. Niemand ist so viel wert, auch ein Herr Vasella nicht. Soll man jetzt sagen, die Konkurrenten von Instagram, zum Beispiel Picplz, die mit der ähnlichen Idee sogar etwas früher am Start waren, seien Versager? Nein. Sie hatten einfach weniger Glück. Solche gigantischen Bewertungen senden ein völlig falsches Signal aus.

Inwiefern helfen Auszeichnungen, von denen Sie ja für Memonic einige gewonnen haben, dem Geschäft?

Da müssen wir ehrlich sein – markttechnisch bringen sie nichts. Einen Preis zu gewinnen dient eher dem Ego als dem Geschäft. Ich würde zum Beispiel gerne nochmals den Best of Swiss Web Award gewinnen, zum zweiten Mal nach jenem für Local.ch. Gerade Best of Swiss Web ist eine gute Gelegenheit, um mit den preisgekrönten Kunden einen netten Abend zu verbringen und eine gute Atmo­sphäre zu erzeugen.

Kürzlich wurde in der Blogosphäre geschrie­ben, dass Memonic nicht mehr weiterentwi­ckelt wird. Was ist da dran?

Wir pflegen Memonic auf dem aktuellen Stand weiter. Wir gewinnen immer noch ein paar Hundert neue Nutzer pro Tag, immer auch einige zahlende. Das alles reicht zwar, damit die Plattform selbsttragend ist, nicht aber, um ein Start-up mit Mitarbeitern am Leben zu erhalten. Wir bringen jetzt jedoch mit Squirro ein zweites Produkt auf den Markt, in dem wir ein deutlich grösseres Potenzial sehen.

Was ist konkret die Idee hinter Squirro? Macht es nicht im Prinzip dasselbe wie Memonic, aber einfach automatisiert?

Ja, diese Definition passt gut. Wir nennen das Geschäftsfeld Digital Knowledge Curation. Dazu gibt es eine wichtige Kennzahl: 90 Pro­zent aller Informationen, die je kreiert wor­den sind, wurden in den letzten zwei Jahren kreiert. Es dauert nicht mehr lange, bis diese Rate von zwei auf ein Jahr sinkt. Aus diesem Datenberg das Relevante für den einzelnen Nutzer herausfiltern zu können, ist ein rie­siges Geschäftsfeld.

Mit Squirro bringen wir die Relevanz im Kontext des jeweiligen Nut­zers. Das heisst etwa: Wenn ich einen Kalen­dereintrag mache, sammelt Squirro für mich relevante Fakten über Themen, Teilnehmer des Meetings und weiteres automatisch. Das geschieht etwa durch die Anbindung an die verschiedenen Social Networks und aufgrund der Analyse des Nutzerverhaltens. Letztlich bleibt dem Nutzer viel Recherchear­beit erspart.

Warum schätzen Sie das Potenzial für Squirro als grösser ein?

Aufgrund folgender Überlegung: Wann haben Sie das letzte Mal eine Zeitung gelesen und wann haben Sie das letzte Mal einen Artikel zum Aufbewahren aus der Zeitung geschnit­ten? Die meisten Menschen konsumieren jeden Tag Informationsangebote, brauchten also Squirro, archivieren aber nur sehr selten einen Artikel, machen also das, was Memonic tut. Digital Knowledge Curation wird eines der grossen Themen der nächsten Jahre.

Wie heissen Ihre Konkurrenten im Fall von Squirro?

Direkt vergleichbar ist bisher nichts. Es gibt aber viele ähnliche Angebote wie den Google-Alerts, mehr oder weniger ausgedehnte Feed-Researches oder Social-Network-Research-Werkzeuge. Und nicht zuletzt gibt es auch eher sales-spezifische Werkzeuge wie zum Beispiel Inside View.

Inwiefern konnten Sie von Memonic profitie­ren, um Squirro zu entwickeln?

Codemässig steckt fast nichts von Memonic drin, erfahrungsmässig aber sehr viel. Es gibt – das behaupte ich jetzt mal – kein Team in der Schweiz, das derart viel Erfahrung mit cloud­basierten Anwendungen hat. Zwar haben uns im vergangenen Jahr drei Mitarbeiter verlas­sen, dafür haben wir neue Leute reingeholt. Obwohl wir auch mit Freelancern überall auf der Welt zusammenarbeiten, wird Squirro zu 90 Prozent in der Schweiz entwickelt. Wir haben zudem kürzlich unseren letzten physi­schen Server abgeschafft. Bei uns ist tatsäch­lich alles cloudbasiert.

Gehen Sie mit Squirro vor allem in den B2B-Markt wie zuletzt mit Memonic?

Wir werden Squirro in Form von Packages On-Top-of-CRMs anbieten, von Salesforce, SAP Business by Design, Confluence, Highrise und weiteren. Wir werden auch eine auf den Mobile-Kanal zugeschnittene Stand-alone-App anbieten.

Sie haben kürzlich 1,5 Millionen Dollar Finanzierung für Squirro einsammeln können. Schweizer Investoren sind keine an Bord.

Das ist richtig. Wenn Sie die Lebensläufe der neuen Investoren anschauen, dann ist das ein Who's who der Softwarebranche. Darauf sind wir stolz. Zu den bisherigen Investoren kamen bekannte Gesichter wie Alex Ott hinzu, als Lead-Investor, der ehemalige EMEA-Chef von Siebel und heutige Verwaltungsrat von Qlik­tech. Zur Gruppe gehören auch Raul Vejar, der Ex-COO von Business Objects, Paul Wahl, Ex-SAP-Vorstand, Måns Hultman, Ex-Qliktech-CEO, sowie Andy Honess, Ex-Verkaufsdirektor von Qliktech.

Wie viel Zeit geben Ihnen die Investoren?

Das Produkt wird im Mai lanciert. Dann haben wir ein halbes Jahr Zeit. Danach wer­den wir wissen, ob wir mit dieser Idee Pleite gehen oder Erfolg haben werden. Wir hoffen, bald das Patent für die von uns entwickelten Kerntechniken in Squirro zu erhalten.

Stichwort Patent: Beinahe täglich hört und liest man von Patentklagen unter den Multis. Wie stehen Sie zu diesem Thema?

Kennen Sie die Kulturgeschichte der Neuzeit von Egon Friedell?

Nein.

Im Vorwort zur Kulturgeschichte der Neuzeit steht sinngemäss Folgendes: Der Mensch hat immer schon davon gelebt, dass er sich von anderen hat inspirieren lassen. Alexander der Grosse hat für seine Schlachtpläne seinen Vater Philipp bestohlen. Schiller bediente sich bei Shakespeare. Und auch Goethe hat für seine Farbenlehre abgeschrieben. Dennoch, jedes Plagiat richtet sich selbst. Es haftet ihm der Fluch an, der jedes gestohlene Gut zu freudlosem Besitz macht. Die Natur gestattet keine unehrlichen Geschäfte. Aber, man soll nicht vergessen, dass es eine Periode in der jüngeren Geschichte der Menschheit gegeben hat, die heute als dunkles Mittelalter bezeich­net wird. Das habe einen Grund: Es sei nur in den Klöstern abgeschrieben worden und nir­gendwo sonst. Das war nicht genug.

Trotzdem machen Sie auch ein Patent.

Ja, ganz ohne geht es natürlich nicht. Es ist für uns eine Art Faustpfand. Sollten wir mit Squirro keinen Erfolg haben, interessiert es sowieso niemanden. Sollten wir Erfolg haben, werden irgendwelche Patent-Trolle kommen und auch einen Teil der Einnahmen für sich beanspruchen. Dann können wir mit dem Patent unsere Rechte geltend machen.

Bei Ihren letzten beiden gegründeten Start-ups stiegen Sie nach einiger Zeit aus. Stre­ben Sie auch bei Squirro einen lukrativen Abgang an?

Die Logik unserer Industrie – Stichwort klei­ner Heimmarkt – zeigt mögliche Wege auf – siehe etwa Wuala oder Doodle. Sollten wir mit Squirro auch nur ein klein bisschen Erfolg haben, könnte ein Trade Sale, also ein Verkauf an einen internationalen Grosskonzern, ein Thema werden. Ist es ein Ziel? Wir werden es sehen. Das Geld ist nicht mein Antrieb. Was mich antreibt, ist, aus nichts etwas zu schaf­fen. Alleine mit der Kraft der Gedanken etwas in die Welt zu setzen. Das ist Kreation pur und unendlich motivierend.