"Uns bremst die Autonomie von Kantonen und Gemeinden immer wieder aus"
In der Schweiz scheinen gewisse Dinge einfach länger zu dauern als anderswo – so etwa das E-Government oder die elektronische Identität. Die Netzwoche unterhielt sich mit Christian Weber, Leiter E-Government für KMU beim Staatssekretariat für Wirtschaft, über Gründe, Hintergründe und Perspektiven.

Herr Weber, in letzter Zeit wurden einige internationale Studien publiziert, bei denen die Schweiz bezüglich E-Government vergleichsweise schlecht abgeschnitten hat.
Das stimmt, und es gibt verschiedene Gründe dafür: Zum einen funktionieren unsere Verwaltungen bekanntlich recht gut. Wenn wir ein Problem haben, gehen wir dort vorbei und werden gut bedient. Insofern ist der Druck, den öffentlichen Dienst zu automatisieren, nicht so hoch wie in anderen europäischen Ländern, in denen die Behörden eher schlecht funktionieren. Portugal beispielsweise ist ein Land, das im E-Government schon einiges weiter ist als wir. Dann gibt es Länder wie Österreich, die immer wieder in Spitzenpositionen anzutreffen sind. Dort wurde das E-Government sozusagen per Dekret – noch von Bundeskanzler Schüssel – systematisch nach dem Katalog der EU eingeführt. In der föderalistisch organisierten Schweiz fällt ein solcher Ansatz weg, weil die Kantone ihre eigenen Ansätze und Prioritäten haben. Das führt dazu, dass man beispielsweise eine Autonummer eben nicht flächendeckend via Internet lösen kann, was die Position der Schweiz als Ganzes beim E-Government schwächt. Schliesslich gibt es noch die ehemaligen Ostblockländer. Sie hatten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fast gar keine funktionierenden Behörden und mussten alles von Grund auf neu machen. Deshalb konnten sie, ohne sich um bestehende Strukturen kümmern zu müssen, schnurstracks zum E-Government übergehen. Hierzu gehört zum Beispiel Estland.
Das klingt plausibel – die Autoren der digitalen Agenda 2020 postulieren aber, dass das nur langsame Vorwärtskommen beim E-Government zur Hypothek für den ICT- und Wirtschaftsstandort Schweiz wird.
Die schleppenden Fortschritte im E-Government sind durchaus ein Problem für den Wirtschaftsstandort. Wenn wir alle Medienbrüche eliminieren könnten, die wir noch haben, wären wir sehr viel effizienter und produktiver. Hier sind andere Länder schon viel weiter. Der ICT-Standort Schweiz hingegen dürfte eher weniger betroffen sein. Unsere Industrie ist in gewissen Bereichen führend, wir haben gute Fachleute und gute Produkte. Das ist für den Erfolg dieser Branche viel wichtiger als der Stand des E-Government.
Leidet das E-Government unter zu kleinen Budgets oder mangelndem politischen Willen?
Wenn man die Budgets mit anderen Ländern vergleicht, sind unsere tatsächlich sehr bescheiden. Insofern ist es erfreulich, was mit diesem wenigen Geld schon alles realisiert werden konnte. Das deutet auf eine hohe Kosteneffizienz hin. Selbstverständlich sind Länder mit repräsentativ-demokratischen Systemen bei der Umsetzung schneller als wir. Uns bremst die Autonomie von Kantonen und Gemeinden immer wieder aus – das ist der Preis, den wir für unser System bezahlen. Aber der Bund will künftig eine stärkere Führungsrolle übernehmen, auch was die Finanzierung angeht. In der neuen Vereinbarung soll das Informatikstrategieorgan des Bundes mit der Geschäftsstelle E-Government Mittel zur Verfügung haben, um Schwerpunkte setzen zu können.
Welche Kantone stehen denn beim E-Government besonders gut da?
Ich würde hier die Kantone St. Gallen und Thurgau hervorheben. Sie haben insbesondere die Einführung der SuisseID sehr rasch vorangetrieben. Dort kann man mit der elektronischen Identität bereits Einsicht in sein Steuerkonto nehmen und Zahlungsvereinbarungen abschliessen.
Bleiben wir bei der SuisseID: Im Januar dieses Jahres haben Sie mitgeteilt, dass 271 000 SuisseIDs beantragt wurden. Liegt das im Plan?
Ja, die Rückerstattung pro SuisseID wurde Anfang 2010 auf 65 Franken festgelegt. Mit den 271 000 bestellten SuisseIDs wurde der im vergangenen Jahr bereitgestellte Finanzbetrag zu 100 Prozent ausgeschöpft. Der Trägerverein SuisseID visiert nun die Schwelle von 300 000 an.
Das heisst, die SuisseID ist über den Berg?
Ja, denn heutzutage ist es ohnehin keine Frage mehr, ob die elektronische Identität kommt, sondern höchstens noch wie schnell. Das gilt für die Schweiz genauso wie für Deutschland und Österreich.
Aus Deutschland hat man aber zum neuen Personalausweis mit elektronischer Identität nicht viel Ermutigendes gehört.
Was das deutsche Modell anbelangt, bin ich tatsächlich ein wenig ernüchtert. Der neue Personalausweis ist absolut bürgerzentriert, das heisst: Es handelt sich um eine Identitätskarte mit integrierter elektronischer Identität. Der Bürger erhält sie zwar gratis – muss die Signatur aber selbst freischalten, bevor er sie als elektronische Identität nutzen kann. Unternehmen und Institutionen, die die Bürgerkarte für den elektronischen Geschäftsverkehr in ihre Applikationen integrieren möchten, müssen sich einem aufwendigen Zertifizierungsprozess unterziehen. Solche Rahmenbedingungen begünstigen die breite Nutzung nicht gerade. Dementsprechend waren von den 4 Millionen ausgelieferten Personalausweisen Anfang Mai bloss 170 000 freigeschaltet. Und noch viel weniger haben die Signatur auch tatsächlich genutzt. Zwar soll es schon 30 Anwendungen geben, die sich mit der Karte nutzen lassen, aber was nützt das, wenn die Karten nicht aktiviert sind?
Und wie sieht es in Österreich aus?
Dort gibt es bereits seit etwa 5 Jahren die sogenannte Bürgerkarte. Die kann man als separate Karte haben oder auch via Handy nutzen. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Österreich viele E-Government-Anwendungen, aber kaum Anwendungen in der Privatwirtschaft. Deshalb wird die Karte wenig gebraucht. Zum Vergleich: In der Schweiz haben wir immerhin schon 220 Anwendungen und sind damit vorne dabei.
Wo liegt der Schwerpunkt bei den 220 Anwendungen?
Rund die Hälfte ist für den Austausch mit den Verwaltungen gedacht, zum Beispiel für den Zugriff auf das Gemeindeportal. Dort kann die SuisseID auch am schnellsten Wirkung entfalten. Wenn ein Anbieter von Gemeindesoftware seine Applikation für die Nutzung der SuisseID vorbereitet, haben wir auf einen Schlag gleich Dutzende von Gemeinden, in denen sie genutzt werden kann. Von privatwirtschaftlichen Anbietern stehen vor allem Lösungen im Bereich E-Business, E-Commerce und E-Health zur Verfügung. Wir haben auch Firmen, die ihre externen Zugänge via elektronische Identität steuern wollen. Zum einen betrifft das die Authentifizierung von Mitarbeitern im Firmennetz – hier kann man viel Geld sparen. Zum anderen gibt es auch schon erste Webshops, die SuisseID-fähig sind.
Sie sagen, Firmen können mit der SuisseID 110 Franken pro Jahr und Mitarbeiter sparen. Wie kommen Sie auf diese Zahl?
Sie stammt aus einer Siemens-Studie und beruht im Wesentlichen auf den Kosten, die durch den Betrieb und die Bewirtschaftung von üblichen Authentifizierungslösungen entstehen. Wenn die Authentifizierung via SuisseID läuft, fallen diese fast vollständig weg. Die Beschaffungskosten für die SuisseID liegen momentan etwa bei 33 Franken pro Mitarbeiter und Jahr.
Sie setzen also überwiegend auf die Wirtschaft als Absatzkanal?
In der Attraktivität für die Wirtschaft liegt das Besondere an unserem Ansatz. Im Gegensatz zu unseren deutschsprachigen Nachbarländern verteilen wir die Karten nicht an die Bevölkerung, sondern verkaufen sie vor allem über die Wirtschaft. Das wird am Ende dazu führen, dass der Durchschnittsschweizer seine SuisseID nicht selbst kauft, sondern von seiner Firma oder einem Dienstleister bekommt. Und weil die SuisseID immer eine persönliche Karte ist, kann man sie auch nach Beendigungen der Geschäftsbeziehung weiternutzen.
Eine Frage zur Handhabung in der Praxis: Mein Arbeitgeber stattet mich mit einer SuisseID aus, die ich für die Anmeldung im Firmennetz benötige. Wie läuft die Bereinigung meiner Berechtigungen ab, wenn ich das Unternehmen verlasse?
Um die Berechtigungen zu regeln, muss die Firma nur die elektronische Identität der Karte auslesen. Die wird in einer IAM-Lösung hinterlegt. Solche Lösungen kann die Firma selbst betreiben oder als Dienst extern einkaufen. Im Prinzip kann man also beliebig viele Berechtigungen mit einer Karte verknüpfen. Wenn ein Mitarbeiter die Firma verlässt, können die Berechtigungen innerhalb von Sekunden wieder aus der IAM-Lösung gelöscht werden – ohne dass erneut physisch auf die Karte zugegriffen werden muss.
Bis Ende 2010 wurden die SuisseIDs ja via Stabilisierungspaket verbilligt. Sind die Verkaufszahlen seither gesunken?
Nein, die Zahlen sind ungefähr gleich geblieben.
Das heisst aber auch, dass der Preis zumindest für Firmenanwender gar nicht kritisch ist.
Ja, für Firmen ist der Nutzen grösser als die Kosten. Eigentlich müsste jeder Firmenchef, der rechnet, so rasch wie möglich eine Suisse¬ID für die Mitarbeitenden besorgen.
Gibt es ein Monitoring, wie viel man in der Praxis wirklich spart?
Nein, es ist noch zu früh für solche Rechnungen. Die Sache muss zuerst einmal anlaufen.
Sind schon Massenanwendungen in der Pipeline?
Ja, Postfinance arbeitet daran, ihren Zugang SuisseID-fähig zu machen. Das ist eine ausgezeichnete Sache, um der Bevölkerung zu zeigen, was der Nutzen einer digitalen Identität ist. Wir erhoffen uns von solchen Projekten einen zusätzlichen Kaufanreiz. Dann gibt es das Projekt "Mehrwertsteuerportal". Darüber können Unternehmen Mehrwertsteuerabrechnungen erledigen. Welches Potenzial hierin liegt, kann man abschätzen, wenn man weiss, dass es in der Schweiz über 300'000 mehrwertsteuerpflichtige Unternehmen gibt. Was sich ebenfalls ankündigt, ist Cloud Computing. Damit kann man als Firma einerseits Geld sparen und andererseits auch viel Business generieren. Voraussetzung ist in beiden Fällen, dass die Nutzer eindeutig identifizierbar sind. Hierfür eignet sich die SuisseID hervorragend, zumal sie nicht nur den Schweizer Bürgern vorbehalten ist. Bei Verwendung einer grenzüberschreitenden Applikation kann die SuisseID auch im Ausland eingesetzt werden. Dies kommt nicht zuletzt auch dem Wirtschafts- und ICT-Standort zugute.
Sie sagen, die SuisseID ist nicht mit der Schweizer Staatsbürgerschaft verknüpft – heisst das, dass ich auch als Engländer mit Wohnsitz in England eine SuisseID erhalte?
Ja, jeder Weltenbürger, der anhand eines Passes eindeutig identifizierbar ist, kann eine bestellen. Das wiederum eröffnet neue Geschäftsmodelle, beispielsweise für Rechenzentren, die aus der Schweiz heraus sichere Applikationen international anbieten wollen. Wir haben ein Projekt mit der Welt-Post-Union, die basierend auf unserem System eine PostID weltweit lancieren will. Hier sind einige ganz grosse Dinge am Laufen.
Stichwort Internationalisierung: Wie sieht es nun wirklich aus mit der bemängelten Europakompatibilität der SuisseID?
Wir müssen zwei Dinge unterscheiden: Auf der einen Seite gibt es das EU-Projekt Stork, das zum Ziel hat, die verschiedenen nationalen elektronischen Identitäten europaweit über ein System zusammenzuführen. Das würde bedeuten, dass ich mit der SuisseID etwa in Helsinki lokal Geschäfte abwickeln kann. In dieser Hinsicht ist die Schweizer Lösung absolut kompatibel. Auf der anderen Seite gibt es die Initiative mit der European Citizen Card, kurz ECC. Dabei handelt es sich um einen klassischen Sichtausweis mit integrierter elektronischer Identität – ähnlich wie der neue deutsche Personalausweis. Das ist aber kein EU-Projekt, sondern eine Initiative verschiedener Länder. Mit der ECC ist die SuisseID nicht kompatibel, weil sie nie als Personalausweis gedacht war. Die Lösung wäre eine neue Identitätskarte mit integrierter SuisseID. Das ist technisch kein Problem. Die Differenz ist aber, dass die elektronische Identität in der Schweiz von privatwirtschaftlichen Organisationen herausgegeben wird, währenddessen die ECC den Staat als Herausgeber will. Wir lassen uns aber nicht ins Bockshorn jagen, weil wir meinen, eine privatwirtschaftlich generierte Signatur wird offiziell, im Moment in dem sie in einen staatlichen Ausweis integriert wird. Hierfür müssen die gesetzlichen Grundlagen erst noch geschaffen werden.

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