Marc Touitou, CIO der WHO

"Wir nutzten die IT als Katalysator, um auf die Ebola-Epidemie zu antworten"

Uhr | Aktualisiert
von Interview: Rodolphe Koller, Übersetzung: Janine Aegerter

Marc Touitou, CIO der WHO, spricht im Interview über die Rolle der IT im Zusammenhang mit der Ebola-Krise. Zudem erklärt er, warum er seinen Posten als CIO der Stadt San Francisco nach nur einem Jahr aufgegeben hat und dem Ruf nach Genf gefolgt ist.

Vor Ihrer Tätigkeit bei der WHO waren Sie über ein Jahr lang als CIO der Stadt San Francisco tätig. Wie fühlt man sich auf einem solchen Posten?

Marc Touitou: Ich habe mein ganzes Leben im privaten Sektor gearbeitet. Ich weiss, was es heisst, einem Unternehmen zum Wachsen zu verhelfen, Märkte zu erobern und sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen. Mit 50 hatte ich das Bedürfnis, dieser Einstellung von "immer mehr" zu entkommen und etwas wirklich Sinnvolles zu tun. Ich traf damals auch viele Personen, die in öffentlichen Organisationen tätig waren, und es nervte mich, dass solche Organisationen nicht mehr aus ihren verfügbaren Budgets machten. Genau in dieser Zeit ergab sich dann die Gelegenheit, für San Francisco zu arbeiten. Der Stadtpräsident hatte davon gehört, was ich in Sachen Projektmanagement und -ausführung in meinem vorherigen Job erreicht hatte. Er sagte zu mir: "Die Stadt benötigt einen Kulturschock, wir brauchen frisches Blut. Normalerweise wenden wir uns nicht an Mitarbeiter aus der Privatwirtschaft, da wir nur über limitierte finanzielle Ressourcen verfügen, aber falls Sie an dem Posten interessiert sind …". Und ich sagte: "Okay, ich werde gerne diese Rolle als Katalysator für eine Veränderung übernehmen."

Welche Projekte haben Sie in San Francisco während dieser Zeit realisiert?

Die Stadt hatte das Projekt in Angriff genommen, der Bevölkerung gratis Wi-Fi zur Verfügung zu stellen. Seit drei Jahren verhandelten sie bereits mit einem Anbieter, ohne dass etwas passiert wäre, trotz erfolgter Versprechen. Ich tauschte mich mit mir bekannten Personen aus dem Security-Bereich, der Systemarchitektur und dem Project Management Office aus und nutzte zudem die bereits bei der Stadt verfügbaren Ressourcen und Kompetenzen. Danach nahmen wir das Projekt in die Hand und handelten mit denjenigen Anbietern, die sich am Projekt beteiligen wollten, Gratis-Hardware aus. Innerhalb von sechs Monaten installierten wir Glasfaser und Hotspots 2.0 zwischen dem Zentrum von San Francisco bis hin zum Embarcadero (berühmte Strasse in San Francisco, Red.). Wir waren die erste Stadt der Welt, die so etwas gemacht hat. Dieses Projekt diente dazu, der Bevölkerung zu zeigen, dass wir fähig sind, Dinge zu bewegen. Ein anderes Projekt betraf das Disaster Recovery, ein kritisches Element, wenn man das Erdbebenrisiko von San Francisco bedenkt. Also schlossen wir einen Vertrag mit dem Rechenzentrum des Staates von Kalifornien in Sacramento ab und implementierten eine Mirroring-Lösung für unser Mainframes und unsere Exadata- und Exalogic-Systeme. Diese raschen Erfolge haben von sich reden gemacht. Sie verliehen der IT der Stadt auch eine neue Dynamik. Denn das Problem waren nicht die Budgets. Was fehlte, war eine Leadership und eine "militärischere" Art und Weise, Projekte zu managen. Die meisten Leute verwechseln Vision, Mission, Strategie und Taktik. Sind die Konzepte einmal klar, kann man sie einfacher auf eine Stadt, eine Organisation wie der WHO oder auf sonst jemanden anwenden.

Was hat Sie dazu motiviert, San Francisco zu verlassen und der WHO in Genf beizutreten?

Damals war meine Mission in San Francisco gewissermas­sen erfüllt. Ich hatte die IT reorganisiert, symbolträchtige Projekte durchgeführt und bewiesen, dass man auch in einer öffentlichen Verwaltung die Trägheit überwinden und Projekte vorantreiben kann. Also hatte ich entweder die Option, im Rahmen eines innovativen Sektors des Silicon Valley wieder in die Privatwirtschaft zurückzukehren – oder ich konnte mich einer neuen Herausforderung im humanitären Bereich stellen. Da ergab sich die Möglichkeit, für die WHO zu arbeiten, und für mich war das die perfekte Herausforderung, wenn man bedenkt, welches Potenzial die IT in einer solchen Organisation birgt. Die Informatik kann Prozesse beschleunigen, Innovationen fördern und erlaubt es auch, effektiver zu arbeiten. Bei der WHO bedeutet dies auch, Leben zu retten.

Welchen Projekten haben Sie sich in den ersten Monaten bei der WHO gewidmet?

Ich habe damit begonnen, meine Rolle sowie die Rolle und die Aufgaben der Corporate IT klarer zu definieren. Dabei ging es primär darum, der IT-Abteilung wieder Stolz und Ansehen zurückzugeben. Zwischen den verschiedenen regionalen Büros und dem Hauptsitz sowie innerhalb der verschiedenen Regionen fehlt eine gute Koordination. Zudem ist es nötig, die zentralisierten Kompetenzzentren in Sachen Projektführung, Business Intelligence, Sicherheit und Systemarchitektur zu stärken. Diese Transformation wurde durch die Ebola-Krise beschleunigt. Die IT wurde als Katalysator benutzt, um eine einheitliche Antwort auf die Epidemie zu liefern. Alles, was wir nun im Rahmen der Ebola-Krise tun, lässt sich für die ganze restliche Organisation wiederverwenden.

Welche Rolle spielt die IT bei der Bekämpfung von Ebola?

Angesichts des Ausmasses der Epidemie beschloss der Sicherheitsrat der Vereinigten Nationen, eine koordinierte humanitäre Mission namens UN-Mission for Ebola Emergency Response, kurz UNMEER, zu etablieren. So etwas hat es zuvor nie gegeben. In einem ersten Schritt mussten wir die Bedürfnisse erkennen und zusammenfassen, indem wir Informationen aus dem Feld, aus den Regional­büros der WHO sowie Drittorganisationen, wie das Rote Kreuz oder Ärzte ohne Grenzen, sammelten. Auf dieser Basis konnten wir anschliessend die Logistik sowie den Personal- und den Materialaufwand planen. Es handelte sich dabei also grundsätzlich um ein Prozess- und System­informationsproblem mit einem definierten Ziel, einem limitierten Zeitfenster sowie limitierten Ressourcen. Wir führten daraufhin als zentrale Anlaufstelle ein Project Management Office ein, das existierende Prozesse erfasst und Zielprozesse definiert. Wir implementierten auch ein ­rollenbasiertes Informationsportal, das gleichzeitig der Öffentlichkeit wie auch nationalen und humanitären Organisationen zur Verfügung steht. Dieses Portal erlaubt es, Informationen aus dem Feld zu erfassen und miteinander zu verbinden sowie die Kennzahlen von Ebola, die Behandlungsregionen und die Lage von Logistikzentren und so weiter abzufragen. Dies alles musste sehr schnell geschehen. Das passte zu der gewünschten Reform der IT und der Rolle, die wir ihr innerhalb der WHO geben wollen.

Welche anderen IT-Grossprojekte beschäftigen Sie derzeit?

Wir haben noch zwei andere Grossprojekte: Das erste betrifft die Implementierung von grossen Unternehmensprozessen im ERP. Dieses wurde 2008 eingeführt, indem man alle Prozesse tel quel integrierte, was viele Anpassungen erforderte. In den kommenden zwei Jahren müssen wir Corporate-Bereiche wie HR, Finanzen und Logistik überarbeiten, um sie zu vereinfachen und schlanker und zuverlässiger zu gestalten. Das zweite Projekt betrifft die Reform der WHO. Dabei geht es darum, die Organisation transparenter zu gestalten und das Vertrauen der Mitgliedstaaten zu verstärken. Dies erfolgt über Kennzahlen und Verpflichtungen in Bezug auf Dienstleistungen, die geliefert werden müssen. Dies ist eine Chance für die IT, denn deren Budgets wurden wegen der Finanzkrise in den Jahren 2010 und 2011 drastisch gekürzt. Es geht dabei darum, zu zeigen, dass die IT einen Mehrwert bietet und somit letztlich auch die Budgets rechtfertigen, die nötig sind.

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