Dossier

Netzwoche Nr. 7/2015

Editorial von George Sarpong:

Hätte Wilhelm Tell verhindert werden können?

Ein Mann tötet den regionalen Verwalter der Regierung, um sich seiner Festnahme zu entziehen. Der Mann gibt als Motiv an, das Treiben des Regierungsbeamten stoppen zu wollen. Die Regierung dürfte dahinter wohl ­einen terroristischen Akt sehen. Dieser hätte vielleicht verhindert werden können, wenn es einen Geheimdienst gegeben hätte, der über die geeigneten gesetzlichen und technischen Möglichkeiten verfügt hätte. So führte dieser Terror­anschlag zum Tod des Habsburger Reichsvogts Gessler und zum Aufstieg Wilhelm Tells zur nationalen Ikone der Schweiz für Freiheit und Gerechtigkeit. Aber es ist ja nur eine Legende.

Nun stimmte der Nationalrat im März für ein neues Nachrichtendienstgesetz, das unter anderem Attentate verhindern soll, aber Wilhelm Tells Tat wohl dennoch nicht verhindert hätte. Denn bei Einzeltätern versagen oft selbst ausufernde Überwachungssysteme.

Im Parlament waren die Grünen gegen das neue Gesetz. Sie fürchteten eine neue Fichen-Affäre oder Schlimmeres. Die SVP war dafür und findet die Warnungen der Grünen Blödsinn. So wie Thomas Hurter (SVP/SH) in einem Artikel des «Tagesanzeiger» vom 16. März erklärt. Hurter weist in dem Artikel da­rauf hin, dass ausgerechnet jene dagegen seien, die sich sonst in sozialen Netzwerken produzierten. Und damit bringt er – vermutlich ungewollt – das eigentliche Problem auf den Punkt. Denn das Panoptikum nach Foucault, des allüberwachenden Gefängnisses, bei dem niemand sicher sein kann, nicht beobachtet zu werden und das die Grünen so fürchten, existiert bereits. Ausgerechnet IT-Unternehmen, wie etwa Google oder Facebook, kommt hierbei eine tragende Rolle zu. Sie beobachten den Datenverkehr, werten diesen aus und geben ihre Auswertungen auch weiter. Wer IT nutzt, kann sich also nie ganz sicher sein, dass er nicht überwacht wird. Das führt letztlich zu einer Selbstzensur, wie etwa der Psychologe Johannes Nau im Dezember des letzten Jahres auf Netzpolitik.org schrieb. Nau beschäftigte sich in seiner Masterthesis mit der Massenüberwachung online und den sich daraus ergebenden Effekten auf eine Gesellschaft. Nau verbindet in seiner Arbeit Ansätze der Systemtheorie und Psychologie. Er verweist neben Foucault etwa auf Tom Brignall von der University of Tennesse, der bereits 2002 vor der panoptischen Wirkung des Internets warnte. Denn Menschen, die sich auf sozialen Netzwerken exponieren, posten in der Regel nur dass, von dem sie glauben, dass es der allgemeinen Moral konform ist. Und deshalb hat Hurter Recht, wenn er die Einwände der Grünen nicht nachvollziehen kann. Denn wir alle, die wir im Web und insbesondere in sozialen Netzwerken aktiv sind, fügen uns freiwillig dem Panoptikum. Wir ­lassen uns bereits überwachen. Mit dem überarbeiteten Nachrichtendienstgesetz nutzen dann neben Facebook, Marketingunternehmen, ausländischen Geheimdiensten und wer weiss noch wer auch einheimische Behörden die Daten, die wir ohnehin preisgeben.

Statt das Nachrichtendienstgesetz zu bekämpfen (oder zu befürworten), sollten sich Politiker, Intellektuelle, Fachverbände, insbesondere aus  der IT, und weitere Exponenten der Gesellschaft zunächst einmal grundsätzlich mit Fragen der persönlichen Freiheit im Zeitalter der Digitalisierung auseinandersetzen.