Verhältnismässigkeit gefordert

Schweizer Datenschützer kritisieren Überwachungsmassnahmen

Uhr | Aktualisiert

Schweizer Behörden nutzen digitale Technologien zur Eindämmung der Pandemie und zur Kontrolle erlassener Massnahmen. Dabei gehen sie mitunter unverhältnismässig weit, kritisieren Amnesty International, der Verein Digitale Gesellschaft und die Stiftung für Konsumentenschutz.

(Source: Matthew Henry / Unsplash.com)
(Source: Matthew Henry / Unsplash.com)

Gleich drei Organisationen äussern in einer Mitteilung Bedenken an den behördlichen Massnahmen zur Pandemiebekämpfung. Überwachungsmassnahmen und digitale Hilfsmittel können zwar bei der Bekämpfung des Coronavirus helfen, schreiben Amnesty International, die Digitale Gesellschaft und die Stiftung für Konsumentenschutz Schweiz in einer gemeinsamen Mitteilung. Dabei müsse aber die Verhältnismässigkeit bei allen Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben.

Dazu stellen die Organisationen einige allgemeine Forderungen:

  • Ergriffene Massnahmen müssen "erforderlich und geeignet sein, ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel tatsächlich zu erreichen".

  • Sie dürfen in sachlicher, räumlicher, personeller und zeitlicher Hinsicht nicht über das absolut Notwendige hinausgehen.

  • Eine Massnahme hat zu unterbleiben, falls ein geeigneter, milderer Eingriff möglich ist.

  • Eine Massnahme muss zudem transparent sein.

  • Die ergriffenen Massnahmen müssen auf die Dauer der Krise beschränkt sein.

Verhaltenes Lob für BAG und Swisscom

Namentlich gehen die Autoren der Mitteilung etwa darauf ein, wie der Bund die Einhaltung des Versammlungsverbots kontrollieren will. Das BAG bezieht Standortdaten der Swisscom. Die zugrundeliegenden Daten seien aggregiert beziehungsweise anonymisiert, so dass keine Personendaten vorliegen würden. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die Swisscom hätten sich zwar zunächst geweigert, die entsprechende Verfügung zu veröffentlichen, und "die Digitale Gesellschaft hat daher vorsorglich ein Verfahren gemäss Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) gegen das BAG eingeleitet". Immerhin seien inzwischen, "auf Druck des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragen", weitere Details publiziert worden. Transparenz sei bei der vorliegenden Verwendung von Standortdaten von höchster Bedeutung.

Als "grundrechtlich höchst problematisch" bezeichnet die Mitteilung die Forderung "gewisser Kreise", künftig auch die Vorratsdaten aus der Handy-Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung für ein Contact-Tracing zu nutzen. Dies würde einen massiven Eingriff in die Privatsphäre darstellen und liefere dennoch zu ungenaue Daten, um physische Kontakte und eine mögliche Infektionskette des Coronavirus nachweisen zu können.

Apps haben Potenzial

Grundsätzlich könnten hingegen sogenannte Contact-Tracing-Apps hilfreich sein. "Eine datenschutzkonforme Contact-Tracing-Technik ist umsetzbar, wenn wichtige Grundsätze beachtet werden", heisst es in der Mitteilung. Und zwar:

  • Alle Kontakt-Informationen müssen sicher verschlüsselt und lokal auf dem Handy gespeichert werden.

  • Sie dürfen erst beim Vorliegen einer Infektion anonym ausgewertet werden.

  • Darüber hinausgehende Überwachung, beispielsweise Location Tracking, dürfe nicht stattfinden. Bei der Entwicklung müssen offene Standards, Schnittstellen und Open Source-Software zum Einsatz kommen.

  • Schliesslich müsse die Verwendung der App freiwillig sein.

Lobend erwähnt die Mitteilung das Projekt der paneuropäischen Initiative Pepp-Pt, an welcher sich auch die ETH Lausanne beteiligt. "Äusserst problematisch wäre hingegen die Zusammenarbeit mit Big-Data-Unternehmen wie Palantir, eine US-amerikanische Firma, die international für Geheimdienste und Sicherheitsbehörden tätig ist und keine Transparenz gewährleistet."

Harsche Kritik an Videoüberwachung

Die grössten Bedenken äussern die Autoren hinsichtlich Massnahmen, das öffentliche Leben in Echtzeit zu überwachen. Namentlich erwähnt wird der Kanton Aargau, dessen Regierungsrat Anfang April beschlossen habe, "dass die Polizei auf bestehende Videokameras in Echtzeit - auch von Dritten - zugreifen und selber neue Kameras aufstellen darf. (Sonderregelung im PDF)

Solche virtuellen Patrouillen könnten nicht direkt einschreiten und würden in ihrer präventiven Wirkung höchstens dazu führen, dass sich die Menschen an einem anderen, nicht überwachten Ort treffen, argumentieren die Organisationen. Der Kanton Aargau gehe mit dieser Massnahme weit über die Datenauswertung des BAG hinaus. Es seien jedoch keine speziellen Umstände ersichtlich, welche eine solche Massnahme im Vergleich zu anderen Kantonen nötig machen würden. "Wir fordern vom Regierungsrat vom Kanton Aargau, die Echtzeit-Überwachung des gesamten öffentlichen Raumes als eine unverhältnismässige Massenüberwachung umgehend zurückzunehmen."

Der Regierungsrat des Kantons Aargau rechtfertige die Massnahme damit, dass mit den beschränkten polizeilichen Kräften eine angemessene Kontrolle nicht umzusetzen sei, schreibt die "Aargauer Zeitung". Ausserdem bestehe "bereits eine Rechtsgrundlage, welche die präventive Überwachung des öffentlichen Raums unter gewissen Voraussetzungen zulässt". Neu angebrachte Kameras müssten bei Aufhebung der behördlich verordneten Einschränkungen wieder entfernt werden, heisst es weiter. Es gehe auch nicht um eine verdeckte Überwachung. Vielmehr seien "geeignete Massnahmen" zu ergreifen, um auf die Kameras aufmerksam zu machen.

Noch schärfere Kritik üben Datenschützer derweil an Massnahmen anderer Länder. Lesen Sie hier, welche digitalen Technologien verschiedene Staaten nutzen, um die Corona-Pandemie einzudeämmen.

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