Jochen Decker im Interview

Der neue SBB-CIO über IT-Pannen und Homeoffice-Sorgen

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von René Jaun und jor

Seit Anfang Jahr sind bei den Schweizerischen Bundesbahnen mehrfach die Ticketsysteme ausgefallen. Jochen Decker, seit August 2020 CIO der SBB, sagt im Gespräch, wie er die Vorfälle aufarbeitet, welche Konsequenzen die finanzielle Schieflage der SBB für seine Abteilung hat und warum ihm das Homeoffice Sorgen macht.

Jochen Decker, CIO, SBB. (Source: zVg)
Jochen Decker, CIO, SBB. (Source: zVg)

Der März war ein Pannenmonat für die SBB: Mehrfach nacheinander fielen entweder Ticketsysteme oder Fahrpläne aus. Was war los?

Jochen Decker: Wir hatten zwei grössere Störungen im März, nach einem Jahr äusserst stabilem Betrieb. Von einer Häufung von Störungen würde ich also nicht sprechen. Die Störungen lagen zwar zeitlich eng zusammen, waren aber technisch vollkommen unabhängig voneinander. Am 15. März trat eine Anmeldestörung auf unserer Cloudumgebung auf, und am 19. März kam es zu einer grossen Störung am Netzwerkübergang zu einem unserer grossen Provider, die Sicherheit im Bahnverkehr war nie tangiert. In beiden Fällen traten die Störungen bei unseren Partnern auf. Das tut aber nichts zur Sache, denn wir als SBB sind dafür verantwortlich, unseren Kundinnen und Kunden einen guten Service zu bieten. Und für die entstandenen Unannehmlichkeiten wollen wir uns ausdrücklich entschuldigen.

Laut Medienberichten gab es aber bald danach noch eine dritte Störung.

Tatsächlich kam es am Gründonnerstag noch zu einer kurzen Störung beim Kreditkartenprovider, sprich beim Bezahlvorgang. Unsere IT-Systeme haben da funktioniert. Aber es zeigt, wie stark wir als SBB mit dem Ökosystem verflochten sind. Als es kürzlich zu einer grossen Störung im Mobilfunk kam, hatte das ebenfalls Auswirkungen auf uns: Wenn Das Mobilnetz nicht funktioniert, funktioniert natürlich auch "SBB Mobile" nicht. Für uns ist das eine Mahnung, auch das Ökosystem sauber zu managen.

Wie gehen Sie mit diesen Vorfällen um?

Unter dem Strich haben die Störungen gezeigt, wie bedeutend inzwischen die IT für unseren Bahnbetrieb ist: Ohne IT fährt kein Zug. IT ist mittlerweile also deutlich mehr als ein wenig Workplace und SAP. Die beiden Störungen im März waren wirklich gravierend. Entsprechend werden sie auch nicht wie eine 0815-Störung nachbereitet. Wir machen grosse Audits über die Architektur, Prozesse, organisatorische und kulturelle Themen bei den SBB und unseren Lieferanten, um nachhaltig aus den Vorfällen zu lernen. Das Ziel ist, nach einer Störung stärker zu sein als davor, und das System durch neue Erkenntnisse zu härten.

Wie ist die IT der SBB aufgestellt?

Wir sind knapp 1300 interne Mitarbeitende mit einem Gesamtbudget von 650 Millionen Franken. Die IT ist nach SAFe Grundsätzen - "Scaled Agile Framework" - organisiert. Wir haben drei organisatorische Blöcke: Im Block "Digital Solutions" befinden sich 12 Geschäftsprozessgruppen, die gemeinsam mit dem Geschäft als BizDevOps Entwicklung und Betrieb erbringen. Im "Services" Block bündeln wir alle unsere internen Dienste, von der IT-Infrastruktur bis hin zu Servicedesk und Einkauf sowie unserem Personal. Und schliesslich gibt es noch den Block "Governance", der zum Beispiel Architektur oder Cybersecurity einschliesst. Angesichts des Fachkräftemangels setze ich mich für mehr Frauen in der IT ein. Zudem haben wir keine klassische Führungshierarchie mehr, sondern haben Fach- und Linienführung getrennt. Die Arbeit ist in Feature Teams organisiert. Jeder Mitarbeitende hat einen Mentor für die Personalführung und einen fachlichen Vorgesetzten in den jeweiligen Feature Teams.

Welche Rolle haben Sie als SBB-CIO genau?

Eigentlich habe ich drei Rollen. Zunächst bin ich ganz klassisch für einen stabilen IT-Betrieb und das Projektgeschäft verantwortlich – als effizienter Dienstleister für einen sicheren und zuverlässigen Bahnbetrieb. Zweitens obliegt mir die Konzernsteuerung – die richtige IT für den richtigen Businesszweck. Dazu gehören z. B. Architektur, Portfoliomanagement, Datenmanagement, Qualität oder Cybersecurity. Drittens treibe ich die Digitalisierung im Unternehmen voran, dabei soll diese in erster Linie einen Nutzen für unsere Kundinnen und Kunden bedeuten. Wir wollen damit unseren Service verbessern, aber auch nachhaltiger werden und die Kosten besser im Griff haben.

Sie wurden im vergangenen August CIO der SBB. Wie erlebten Sie die Zeit seit Ihrer Beförderung?

Ich bin insgesamt seit 13 Jahren bei den SBB, und von diesen 13 war das letzte Jahr mit Abstand das schönste und spannendste. Mich faszinieren besonders die Breite der Themen. Natürlich war es auch ein absolut ungewöhnliches Jahr, schon wegen der Coronakrise.

Was waren die grössten Herausforderungen?

Wegen der Pandemie mussten wir vom einen auf den anderen Tag rund 13000 Mitarbeitende ins Homeoffice bringen. Darunter waren auch Mitarbeitende, die nahe an der Produktion sind, von denen man sich zuvor kaum vorstellen konnte, dass sie dereinst von Zuhause aus arbeiten würden. Wir von der IT mussten dabei sicherstellen, dass sie im Homeoffice arbeitsfähig sind. Das hat wunderbar geklappt, zumal "work anywhere" für die SBB nichts Neues ist und wir dank der Office-365-Umstellung im Jahr 2019 gut vorbereitet waren. Das zweite Coronathema war der finanzielle Druck, den auch wir zu spüren bekamen. Neben Corona erhielten wir letztes Jahr einen neuen CEO, der wiederum andere Schwerpunkte setzte. Und für mich persönlich änderte sich natürlich auch das Zusammenspiel mit den Kolleginnen und Kollegen – ich wurde entweder vom Peer zum Vorgesetzten oder vom Mitarbeitender zum Peer.

Sprechen wir mehr über die Finanzen. Wie wirkt sich das schlechte Jahresergebnis der SBB auf Ihre Abteilung aus?

Der öffentliche Verkehr wurde von Corona hart getroffen. Wir hatten letztes Jahr ein Drittel weniger Passagiere und einen Verlust von 617 Millionen Franken. Wir gehen davon aus, dass uns die Krise schlussendlich bis zu 2 Milliarden Franken gekostet haben wird. Bereits letztes Jahr haben wir deshalb Sparmassnahmen umgesetzt. In der IT mussten wir zwar kaum Projekte gänzlich streichen, aber wir mussten sie neu fokussieren, verkleinern und verschieben. So sparen wir Kosten und bereiten uns auf die nächste Wachstumsphase vor, denn die Bahn hat Zukunft, nicht zuletzt angesichts des Klimawandels.

Das klingt nach einem guten Vorsatz. Aber wird es angesichts der hohen Verluste nicht langsam eng?

Es ist jetzt schon eng, und es ist nicht so, dass wir als IT keine Einschnitte haben. Bei den externen Mandaten mussten wir abbauen. Unser internes Personal konnten wir jedoch voll behalten, und sogar leicht ausbauen. Uns ist es wichtig, die internen Mitarbeitenden zu behalten, denn sie sind die Know-How-Träger, quasi unser Kapital. Zudem ist die Digitalisierung unser Hebel, um das Bahngeschäft langfristig zu beherrschen, effizient und nachhaltig zu machen und damit die Gesamtsystemkosten zu senken. Würden wir da jetzt zu sehr kürzen, würden wir sehr langfristige Schäden verursachen.

Wenn Sie über unendliche Ressourcen verfügen würden, welches Projekt würden Sie gerne anpacken?

Eigentlich soll nicht ich mir als CIO Projekte wünschen, sondern das Business darf sich bei der IT Projekte wünschen, die uns als SBB weiterbringen. Dabei erachte ich weniger einen Ressourcen-Engpass auf der IT-Seite als einen fehlenden oder zu späten Einbezug des Business und der künftigen Anwender als matchentscheidend. Gerade jetzt erleben wir dies, weil die Mitarbeitenden aus dem Business damit beschäftigt sind, operativ die Krise zu bewältigen. Entsprechend wünschte ich mir nicht so sehr ein konkretes Projekt, vielmehr sollten wir diesen Engpass überwinden. Dabei geht es uns darum: Dort genügend Ressourcen einzusetzen, wo es unseren Kundinnen und Kunden einen direkten Nutzen bringt.

Was bereitet Ihnen derzeit die grössten Sorgen?

Weniger ein bestimmtes Projekt, sondern allgemein die Thematik rund um Corona und Homeoffice. Wir arbeiten alle sehr produktiv im Homeoffice, vor allem das Abarbeiten von Backlogs funktioniert wunderbar. Schwer wird dagegen das Aufgleisen neuer Vorhaben, und es fehlt die soziale Interaktion. Man kann nicht mehr Dinge in Schieflage einfach beim Kaffee oder bei einem Gespräch auf dem Gang schnell ausräumen. Ich wünsche mir, dass wir die guten Erkenntnisse aus dem Homeoffice bewahren, aber auch wieder die sozialen Aspekte angemessen würdigen können. Wir haben gerade eine IT-Transformation durchgeführt, mit über 2000 Leuten, die sich per Video und Teams beteiligten. Der Change hat funktioniert. Aber es wird wirklich Zeit, wieder mal einen Apéro zu feiern.

Die Apps der SBB werden oft genutzt und gewinnen regelmässig Auszeichnungen bei den Best of Swiss Apps Awards. Wie packen die SBB die App-Entwicklung an?

Tatsächlich hat unsere "SBB Mobile" App knapp unter 3 Millionen Nutzer, und gehört zu den am meisten heruntergeladenen Apps in den App Stores. Letztes Jahr erhielt unsere neueste App "SBB Inclusive" einen Best of Swiss Apps Award. Für uns ist entscheidend, die jeweiligen Zielgruppen klar zu trennen. Die "SBB Mobile"-App haben wir aufs Massengeschäft ausgerichtet. Sie bietet die Grundfunktionen für die Mehrheit der Kundschaft. Für spezifischere Zielgruppen bieten wir weitere Apps. "SBB Inclusive" richtet sich beispielsweise an Menschen mit Sehbehinderungen. Die App-Entwicklung verläuft bei uns jeweils agil: Mit schnellen Zyklen, sehr iterativ und nahe am Kunden. Dafür haben wir beispielsweise die "SBB Preview App", mit der wir Neuerungen im Massengeschäft erproben können. Viele Dinge, die wir in dieser Preview-App testeten, sind heute in der regulären "SBB Mobile"-App enthalten, wie zum Beispiel die Funktion "Easy Ride". Wichtig ist uns auch, für Vorschläge von Aussen offen zu sein, sei es über Hackathons, über Open Innovation oder über Open-Data-Ansätze aber auch für das Feedback unserer Kundschaft. Das Kachel-Design der "SBB Mobile" App hat beispielsweise eine Drittfirma erfunden. Als wir sahen, dass diese Lösung auf sehr gutes Kundenfeedback stösst, haben wir sie in unsere App integriert und bewusst das "Not Invented Here"-Syndrom überwunden.

Welchen Stellenwert hat das Thema Cybersecurity für den Bahnverkehr?

Nebst Pünktlichkeit und Sauberkeit ist Sicherheit einer der Kernwerte der Bahn. Die Digitalisierung dringt immer weiter in den Bahnbetrieb vor, darum wird auch das Thema Cybersecurity immer wichtiger. Die Gegenseite schläft nicht, und es gibt eine hohe Risikoexposition. Wir bereiten uns seriös und vorsichtig darauf vor, indem wir die Cybersecurity in der Anlagen-IT auf dem neuesten Stand halten. Cybersecurity und Digitalisierung kann man gar nicht voneinander trennen. Entsprechend erfordert jede Investition in Digitalisierung auch eine in Cybersecurity. Insgesamt investieren wir pro Jahr einen zweistelligen Millionenbetrag in Cybersecurity. Von einem sicheren Bahnbetrieb profitieren unsere Kundinnen und Kunden.

Im Herbst 2019 wurden Pläne der SBB bekannt, eine Geschäftseinheit zur Stärkung der Cyberabwehr zu gründen. Wo steht diese Einheit heute?

Wir hatten uns schon vor der Gründung dieser Abteilung mit Cybersecurity befasst. Im Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung entschieden wir uns dann, die Ressourcen proaktiv auszubauen und die Kräfte in einem Security Operation Center zu bündeln. Die Abteilung wächst und gedeiht, der Aufbau läuft nach Plan. Es ist ein höchst anspruchsvolles Feld mit einem engen Arbeitsmarkt.

Zum Schluss der Blick nach Vorn: Wie stellen Sie sich die Mobilität der Zukunft vor?

Wir haben während Corona deutlich gesehen, dass Mobilität ein Grundbedürfnis ist. Die Menschen werden nach der Pandemie wieder mehr unterwegs sein. Wir glauben, dass die Projektionen des Bundesamtes für Raumentwicklung gelten, wonach die Mobilität bis ins Jahr 2040 um 50 Prozent ansteigen wird. Die Politik hat die Vision, den Anteil des öffentlichen Verkehrs zu verdoppeln. Das gibt uns wiederum einen starken Rückenwind. Wir sind überzeugt: die Mobilität der Zukunft liegt im öffentlichen Verkehr, mit einer intelligenten Verknüpfung aller Verkehrsträger. Alles andere geht schlicht und einfach physisch nicht und wäre angesichts des Klimawandels nicht tragbar.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung im öffentlichen Verkehr der Zukunft?

Die Digitalisierung ermöglicht uns, mehr Reisende mit der bestehenden Infrastruktur zu transportieren , die Verkehrsträger besser zu verknüpfen und nachhaltiger zu werden. Dank der IT können wir die Züge in kürzeren Abständen aufeinander fahren lassen und so lenken, dass sie weniger Strom benötigen. Die IT hilft also, Kosten beim Infrastrukturausbau und Energie zu sparen. Diese Projekte zur Verkehrsgestaltung der Zukunft machen es enorm spannend, sich bei der SBB IT zu engagieren.

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