Editorial

Sir Tim und sein Monster

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Joël Orizet, Redaktor, Netzwoche. (Source: Netzmedien)
Joël Orizet, Redaktor, Netzwoche. (Source: Netzmedien)

Der Legende nach beginnt es mit der Januar-Ausgabe des "Playboy" aus dem Jahr 1964. In London bekommt ein neunjähriges Kind namens Timothy Berners-Lee das Heft in die Finger – und liest tatsächlich die Artikel; darunter die Kurzgeschichte "Dial F for Frankenstein" des Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke. Es geht um Telefonapparate, die sich miteinander verbinden, ein Bewusstsein entwickeln und schliesslich die Weltherrschaft übernehmen. Die Geschichte fasziniert den kleinen Tim. Angeblich dient sie ihm 25 Jahre später zur Inspiration für das, was er am Genfer Kernforschungszentrum Cern entwickelt: die Grundbausteine des World Wide Web.

Im Gegensatz zur Legende klingt die tatsächliche Motivation hinter der Erfindung vergleichsweise banal: Impulsgebend war nicht Inspiration, sondern Frustration. Berners-Lee habe sich geärgert über die chaotische Kommunikation am Cern, berichtet "Finanz und Wirtschaft". Die rund 4000 Mitarbeitenden nutzten unterschiedliche Dateiformate und unzählige Programme; digitale Daten liessen sich, wenn überhaupt, nur mit grossem Aufwand austauschen. Zudem ging aufgrund der hohen Personalfluktuation ständig Wissen verloren. 1989 publizierte Berners-Lee einen Aufsatz mit dem Titel "Informationsmanagement: ein Vorschlag". Er beschrieb darin ein System, mit dem sich elektronische Dokumente auf allgemein zugänglichen Servern speichern und mit Links verknüpfen lassen. Berners-Lee konnte nicht ahnen, dass man diesen Entwurf später mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichen sollte.

Tim Berners-Lee hat das Web und die Hypertext-Sprache HTML am Cern erfunden. (Source: Cern)

Heute zählt Berners-Lee zu den wichtigsten Kritikern des Web. Er warnt vor Datenmissbrauch, Desinformation, Zensur und Hassreden. Er kritisiert, dass Frauen und Mädchen im Web systematisch benachteiligt und diskriminiert würden. Und er prangert die grossen Techkonzerne wie Google, Amazon und Facebook an. "Bei allem Guten, was wir erreicht haben, hat sich das Web zu einem Motor der Ungerechtigkeit und Spaltung entwickelt, beeinflusst von mächtigen Kräften, die es für ihre eigenen Zwecke nutzen", schrieb er 2018 in einem Blogbeitrag. Sein Nachfolger am Cern, der Computerwissenschaftler François Flückiger, legte noch einen drauf, indem er fragte, "ob wir letztlich nicht ein völlig ausser Kontrolle geratenes Monster erschaffen haben", wie die britische Boulevardzeitung "Daily Mail" schreibt.

Berners-Lee belässt es nicht bei Kritik und Forderungen. Vor drei Jahren gründete er das Start-up Inrupt, das mit einem Projekt namens Solid das Web dezentralisieren soll. Berners-Lee entwickelt das Projekt gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Massachusetts Institute of Technology. Die Idee: Nutzerinnen und Nutzer speichern ihre Daten in sogenannten Personal Online Data Stores, kurz: Pods. Es sind quasi Datentresore, die nicht nur Dateien beinhalten, sondern auch Links, Likes, Kommentare – alle möglichen persönlichen Daten, die beim Surfen im Web entstehen. Diese befinden sich jedoch nicht auf einem Datenspeicher eines Unternehmens, sondern sie sind dezentral abgelegt und verschlüsselt. Und der Schlüssel liegt bei den Nutzerinnen und Nutzern, die ihre Daten nach Bedarf teilen können.

Mit dem Projekt will Berners-Lee die ursprünglichen Ideale des Webs wiederbeleben: freier Informationsfluss, der die Zusammenarbeit erleichtert und Innovationen fördert. Ob er das schafft, ist allerdings fraglich. Einige Experten monieren, das Projekt sei zu akademisch, um breite Entwicklerkreise anzusprechen, berichtet die "New York Times". Andere wiederum bezweifeln, ob die Technologie die nötige Performance erreichen kann, um eine Plattform für zukünftige Applikationen zu bilden.

Till Bay, Geschäftsführer des Zürcher Softwareunternehmens Comerge, ist ebenfalls skeptisch, allerdings aus anderen Gründen. Die Architektur des Web habe Winner-takes-it-all-Märkte erschaffen, sagt er im Interview. "Und die heutigen Gewinner sind derart mächtig, dass jemand wie Tim Berners-Lee keine Chance hat – egal, wie gut seine Idee eines dezentralen Webs klingt", sagt Bay. Das liege daran, dass solche Projekte wie Solid vor allem ethisch motiviert seien und bislang noch keine ökonomischen Anreize für deren Nutzung geschaffen hätten.

Ob es Berners-Lee schaffen wird oder nicht – es braucht Menschen wie ihn: Idealisten der alten Schule, die mit neuen Ideen die Weichen für künftige Entwicklungen stellen. In welche Richtung es geht, bestimmen womöglich tatsächlich die wirtschaftlichen Anreize. Doch an denen kann man schrauben.

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DPF8_216239