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"Hooked" – wie man die User an den Haken der Gewohnheit bekommt

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Eine App zu entwickeln, die bei UX, Design, Funktionalität und Innovation überzeugt, ist anspruchsvoll. Noch ­anspruchsvoller ist es, damit eine grosse Zahl von regelmässigen Anwendern zu gewinnen. Der Bestseller "Hooked" zeigt auf, wie das User Engagement systematisch gesteigert werden kann.

(Source: elenab/Shutterstock)
(Source: elenab/Shutterstock)

Kürzlich haben sprunghafte Kursanstiege von Aktien wie dem Spieleretailer Gamestop und der Kinokette AMC Entertainment für rote Köpfe in der Finanzbranche und für Millionenverluste bei leerverkaufenden Hedgefunds gesorgt. Hinter dem Phänomen standen Kleinanleger, die sich via Reddit-Gruppen organisiert hatten.

Robinhood – Rächer der Kleinanleger

Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die Trading-App Robinhood, welche die Anleger mehrheitlich nutzten, um ihre Käufe kommissionsfrei zu tätigen. Doch die App bietet mehr als blosse Kostenvorteile. Sie ist in vielerlei Hinsicht eine interessante App-Erfolgsgeschichte. Von den knapp 20-jährigen Jungunternehmern Baiju Bhatt und Vlad Tenev gegründet und erst 2014 lanciert, hat Robinhood seither über 13 Millionen Kundinnen und Kunden gewinnen und zu den Branchengrössen wie E-Trade und Charles Schwab aufschliessen können. Und der Erfolg kam nicht von ungefähr.

Ein Robinhood-Account lässt sich in weniger als 5 Minuten erstellen und Neukunden werden nach erfolgreichem Einrichten mit einer Überraschungsaktie belohnt. Das User-Interface ist aufgeräumter und fokussierter als bei den Marktbegleitern, und Elemente von Gamification animieren zu häufiger Nutzung. Die App innovierte den Kauf von Bruchteilsaktien (ideal etwa beim Kauf eines Anteils einer Lindt-Namensaktie, die aktuell bei über CHF 90 000 notiert), was heute bei amerikanischen Brokern Standard ist.

Die App ist so erfolgreich, dass sich Kritiker fragen, ob das Produkt nicht ein bisschen zu gut geraten ist. Doch die ethischen Fragen besprechen wir dann im vorletzten Abschnitt. Zunächst geht es um die wichtigere Frage nach dem User Engagement.

Die Macht der Gewohnheit

Was motiviert Robinhood-User zur häufigen Nutzung der App? Was veranlasst Snapchat-Anwender, im Durchschnitt pro Tag 40 Snaps zu versenden? Wie hat es die Bibel-App "YouVersion" geschafft, auf 475 Millionen Geräten installiert zu werden? Und warum halten wir es an der Tramhaltestelle fast nicht aus, ohne kurz die neuesten Posts auf Twitter, Facebook, Instagram oder Tiktok [hier Ihr persönlich bevorzugtes App-Laster einfügen] zu checken?

Die vereinfachte Antwort auf die Frage lautet: Die Nutzung dieser Apps ist zur Gewohnheit geworden. Und zur Gewohnheit wird ein Verhalten dann, wenn es in einem bestimmten Kontext häufig auftritt und als nützlich empfunden wird.

Das Haken-Modell

So weit, so einfach. Doch gewohnheitsmässig zu handeln ist deutlich einfacher, als Gewohnheiten erst zu erzeugen. Zum Glück gibt es dafür im 2014 erschienenen Buch "Hooked" des Stanford-Absolventen Nir Eyal eine konkrete Handlungsanleitung – das sogenannte Haken-Modell.

Abstrakt formuliert, geht es so: Ein gutes Produkt hat Auslöser, die Benutzerinnen und Benutzer anziehen und veranlassen, aktiv zu werden. Die Aktionen müssen möglichst einfach auszuführen sein und dem Benutzer helfen, das zu erreichen, wofür er die App gekauft oder heruntergeladen hat. Variable Belohnungen bauen Vorfreude auf und lassen Verbraucherinnen und Verbraucher erfüllt zurück – aber auch mit dem Wunsch nach mehr. Wenn man schliesslich Menschen dazu bringt, Zeit, Mühe oder soziales Kapital zu investieren, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie wiederkommen. Und wenn Sie diese Feedback-Schleife oft genug wiederholen, wird diese Aktivität mit der Zeit zur Gewohnheit. Eine schematische Darstellung des Haken-Modells findet sich in folgender Grafik:

Bei den Auslösern (triggers) unterscheidet man zwischen externen (z. B. bezahlte Werbung oder App-Notifications) und internen Quellen (z. B. eine Influencerin, die das starke Bedürfnis verspürt, ein Foto von ihrem Mittagsmenü ihren Followern zu teilen).

Damit der Auslöser zu einer Handlung wird, müssen potenzielle Hindernisse, etwa in Form von kognitiver Anstrengung, weitgehend ausgeräumt werden. Erfolgreiche Gewohnheits-Apps waren hier besonders erfindungsreich – z. B. Tinder mit der Profilbewertung mittels einer einzigen Wisch-Geste, Pinterest mit der unendlichen Bildlaufleiste (infinite scroll) oder Instagram mit der 1-Klick-Bildbearbeitung.

Verstärkt werden kann der Handlungsantrieb mit einer ­Belohnung, wobei variable Belohnungen Menschen deutlich stärker motivieren als fixe (was Behaviorist B.F. Skinner experimentell selbst an Labor-Tauben nachweisen konnte). Beeindruckend gut funktioniert dieser Effekt etwa bei Casino-Spielautomaten mit ihrer rein zufälligen Gewinnausschüttung, aber auch in den sozialen Medien, wo Posts durch variable soziale Anerkennung manchmal mit vielen, manchmal mit keinen "Likes" belohnt werden.

Vollends schluckt der User den Haken aber erst, sobald er selbst in eine Plattform investiert, etwa in Form von Zeit oder Reputation. Der psychologische Mechanismus hinter diesem Effekt nennt sich kognitive Dissonanz, umgangssprachlich kennt man ihn auch unter dem eingängigeren Namen Ikea-Effekt. Bei Apps kann diese Investition etwa die Form eines vollständig ausgefüllten Profils bei Linkedin oder einer eigens kuratierten Playlist bei Spotify annehmen.

Die Manipulations-Matrix

Bei solcherart nach allen Regeln der Haken-Kunst konditionierten Benutzerinnen und Benutzer wirkt die Macht der Gewohnheit besonders stark (was unzweifelhaft am App-Nutzungsverhalten von jugendlichen Smartphone-Usern beobachtet werden kann). Und so stellt sich etwas pointiert formuliert die Frage: Ist es als Publisher ethisch vertretbar, seine User von der eigenen App abhängig zu machen?

Auch hierfür liefert "Hooked" eine sinnvolle und praxistaug­liche Antwort. Nir Eyal empfiehlt, dem Publisher zwei einfache Fragen zu beantworten, nämlich:

  • Würde ich das Produkt selbst verwenden?

  • Hilft das Produkt den Anwenderinnen und Anwendern, ihr Leben wesentlich zu verbessern?

Daraus resultiert eine Matrix mit folgenden vier Ausprägungen:

Erleichterer haben das beste Kundenverständnis und die besten Erfolgsaussichten. Für sie ist es moralisch unbedenklich, die Kunden-Haken auszuwerfen. Ebenfalls ethisch vertretbar, wenn auch in geringerem Ausmass, ist es für den Typus des Hausierers, dem aber das Manko mangelnder Authentizität anhaften kann und für denjenigen des Entertainers, dem in der App-Welt typischerweise das Games-Genre entspricht. Moralisch in einer zweifelhalten Position steht dagegen der Dealer.

Ob diese Rolle auch für Robinhood zutrifft, in dem Kleinanleger mit limitierter Liquidität und ebensolchen Kenntnissen zu riskanten Investitionen verleitet werden, mag der Leser selbst beurteilen. Ohne Zweifel in diese Kategorie fallen dürften dagegen Geld- und Glückspiel-Apps, wie sie in der Schweiz etwa von Swisslos herausgegeben werden.

Fazit

Viele Schweizer Unternehmen haben mittlerweile viel Aufwand und Geld in Kunden-Apps investiert. In dieser nächsten Reifephase der Appconomy geht es nun darum, ein Rendite damit zu erzielen. Das ist möglich, wenn es gelingt, das User Engagement zu vergrössern.

Nicht alle Apps, denken wir etwa an die Musikerkennungs-App Shazam, sind in einer Position, so häufig genutzt zu werden, dass daraus eine Gewohnheit werden kann. Aber alle App-Publisher können auf die eine oder andere Art vom Haken-Modell profitieren. Deshalb sei die Lektüre von "Hooked" wärmstens empfohlen.

Webcode
DPF8_221084