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So hilft Augmented Reality im Operationssaal

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Augmented Reality (AR) kommt in der Medizin zunehmend häufiger zum Einsatz – auch in der Chirurgie. Künftig könnten Chirurginnen und Chirurgen per AR in eine Person schauen, bevor oder während sie diese operieren. Simulatoren und AR-Hololenses sind auf dem besten Weg, diese Vision in den Operationssaal zu holen.

(Source: National Cancer Institute / Unsplash)
(Source: National Cancer Institute / Unsplash)

Pilotinnen und Piloten trainieren zahllose Stunden in einem Flugsimulator, bevor sie zum ersten Mal Menschen in einem richtigen Flugzeug transportieren. Für angehende Chirurginnen und Chirurgen könnte ein solcher Simulator ebenfalls von Vorteil sein – nur dass sie sich damit anstatt auf einen Flug auf eine Operation vorbereiten. Operieren mit Augmented Reality (AR) heisst hier die Devise. Bei der Firma Virtamed in Zürich-Schlieren hat man es sich zur Aufgabe gemacht, Simulatoren mit AR für die Ausbildung von angehenden Chirurginnen und Chirurgen zu entwickeln. Statt an toten Körpern wird hier an Modellen von Körperteilen operiert und geübt. Doch auch auf das richtige Werkzeug kommt es an. Die ETH entwickelt anhand eines AR-Simulators für Augen­operationen das ergonomisch richtige Operations­besteck. Und in der Universitätsklinik Balgrist ist die Zukunft bereits im Operationssaal angekommen. Im vergangenen Jahr wurde hier weltweit zum ersten Mal eine AR-Operation an einer Wirbelsäule eines lebenden Menschen durchgeführt.

 

Stützräder der chirurgischen Ausbildung

Für angehende Chirurginnen und Chirurgen dienen Simulatoren als "Stützräder" der Ausbildung. Wie bei der Firma Virtamed. Die Idee für die Gründung des Unternehmens entstand 2001 im Rahmen des Hysteroskopie-Simulator-Projekts des NCCR CO-ME des Schweizerischen Nationalfonds. 16 Doktorandinnen und Doktoranden waren laut Unternehmenswebsite am Projekt beteiligt. Nach ihrem Abschluss 2007 beschlossen sechs von ihnen, auf Grundlage des Simulatorprojekts ein Unternehmen zu gründen. Unter der Leitung von Michael Bajka, Daniel Bach­ofen, Stefan Tuchschmid, Matthias Harders, Gabor Szekely und Raumundo Sierra entstand die Firma Virtamed, die AR-Simulatoren für die chirurgischen Bereiche der Orthopädie, Gynäkologie, Laparoskopie und Urologie entwickelt und vertreibt. Mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden ist laut Virtamed intern in der Forschung und Entwicklung der Technologie für die Simulatoren tätig.

Claude Hoeltgen, Senior Market Development Manager bei Virtamed, präsentierte bei einem Besuch im Simulatorenraum des Unternehmens die einzelnen Modelle. Sie sind physische Nachbildungen von Körperteilen. Diese speziell hergestellten und präparierten Attrappen fühlen sich sehr real an, vor allem bei der Bedienung mit dem "Operationsbesteck". Entfernt man die äusserste Schicht eines Modells, kommen künstliche Knochen und Sehnen zum Vorschein. So erhält man einen Einblick in die Anatomie eines Menschen. Jedes Modell eines Körperteils ist mit einem dazugehörigen Computerbildschirm verbunden, auf dem Bildschirm ein virtueller Patient dargestellt wird. Als Augmented-Reality-Element dient bei diesen Simulatoren keine AR-Brille, sondern der Bildschirm.

 

Der Orthopädie-Simulator von Virtamed. (Source: Netzmedien)

 

Der Simulator in Aktion

Während des virtuellen Eingriffs fixiert man seinen Blick grundsätzlich auf den Bildschirm, um zu sehen, was im zu operierenden Körperteil passiert. Man spürt das Kratzen und den Widerstand, wenn man an einen Knochen stösst. "Verletzt" man beispielsweise ein Organ oder sticht zu fest in die virtuelle Haut, "beschlägt" das Bild, da die Kamera "schmutzig" ist. Bei einer echten Operation würde man die Kamera nun herausziehen und abwischen, sagt Hoeltgen. Beim Simulator reicht es aber aus, das Werkzeug, das die Kamera imitiert, kurz aus dem Modell herauszuziehen und wieder hineinzustecken. Die "Linse" ist nun wieder sauber und man kann mit der virtuellen Opera­tion fortfahren. Gelbe Pfeile weisen den Weg in die Richtung, in die man das "Operationsbesteck" führen muss. Übt man etwa an einem Schultersimulator, kann man am Oberarm einen Hebel drehen, um einen besseren Blick zu erhalten. Auch hierfür erhält man Anweisungen mit gelben und grünen Pfeilen.

Das virtuelle Bild auf dem Screen ist reellen Patientinnen und Patienten "verblüffend ähnlich", wie Hoeltgen sagt. Die Abweichungen zwischen der Position der Instrumente und dem, was man auf dem Bildschirm sieht, lägen maximal im Millimeter­bereich. Mit der haptischen Rückmeldung macht der Simulator von Virtamed, der mit einer 3-D-Digital-Twin-Technologie ausgestattet ist, die AR-Operation so realitätsnah, wie es ein Simulator kann, sagt Claude Hoeltgen.

Das Programm der Simulatoren gibt Rückmeldung über die Lernkurve und in welchen Bereichen die angehenden Chirurginnen und Chirurgen noch Übung benötigen. Die eigenen Fortschritte sieht man im Anschluss an den virtuellen Eingriff. Ein Vorteil der Software ist es gemäss Hoeltgen, dass in Etappen operiert werden kann. So müsse man nicht die ganze Operation, die teilweise bis zu zwei Stunden dauern könne, jedes Mal komplett simulieren, sondern könne explizit an Bereichen arbeiten, die einem noch Schwierigkeiten bereiten.

 

Der Laparoskopie-Simulator von Virtamed. (Source: Netzmedien)

 

Die Simulatoren von Virtamed richten sich an Krankenhäuser, die junge Ärztinnen und Ärzte ausbilden. Aber auch Med-Tech-Firmen will das Unternehmen adressieren. Um den Chi­rurginnen und Chirurgen neue Entwicklungen am Simulator aufzeigen zu können, lassen Firmen wie Virtamed ihre Simulator-Instrumente anpassen. So können sie der Ärzteschaft mögliche Modifizierungen ihrer Geräte demonstrieren. Für den Bereich der Arthroskopie sind die Simulatoren für die Facharztprüfung der Orthopädischen Chirurgie in der Schweiz bereits seit 2013 im Einsatz. Am Universitätsspital Basel ist es Assistenzärztinnen und Assistenzärzten erst gestattet, am lebenden Menschen im Operationssaal zu praktizieren, wenn sie ein bestimmtes Level am Simulator erreicht haben, wie es auf Anfrage bei Virtamed heisst. Seit 2017 gelte diese Voraussetzung auch etwa in Frankreich. Aktuell gebe es in ganz Europa Bestrebungen, das Simulationstraining als festen Bestandteil in das Ausbildungs-Curriculum von Chirurginnen und Chirurgen zu integrieren.

 

Die Bedeutung der richtigen Instrumente

Übung ist für eine Operation unerlässlich, doch braucht es für einen Eingriff auch das richtige Werkzeug. Bei fragilen Körperteilen wie etwa dem Auge können manche Gerätschaften schnell zu gross sein und den Patienten mit einer höheren ­Wahrscheinlichkeit verletzen. Marino Menozzi, Privatdozent an der Professur für Consumer Behavior der ETH Zürich, forscht mit seinem Team an der richtigen Haptik und Gestaltung von Operationswerkzeugen für das Auge. Ein Simulator ist hier Nebensache. Geforscht wird lediglich mit einer Augmented-Reality-Brille. Wer die Operationsinstrumente ausprobieren möchte, wird vergeblich nach einem Augenmodell Ausschau halten.

Auf einem kleinen Holzbrett auf dem Schreibtisch fällt ein roter Punkt ins Auge. Die Holzkonstruktion ist mit Drähten, Kameras und Sensoren ausgestattet. An den Kabeln sind die entsprechend modifizierten Operationsinstrumente angebracht. Auf dem Computerbildschirm erscheint nun das Augmented-Reality-Programm. Wer den Simulator ausprobieren möchte, setzt eine futuristisch anmutende Brille auf. Dabei handelt es sich um die sogenannte Hololens von Microsoft. Die AR-Brille hat kleine Bildschirme in den Gläsern, die Hologramme vor das eigene Auge projizieren. Im Fall des Simulators der ETH taucht das virtuelle Modell eines zu operierenden Auges auf. Dieses spiegelt in den Brillengläsern den digitalen Zwilling wider, der auf dem Computerbildschirm zu sehen ist. Der Computer, die Instrumente und die Brille sind miteinander verbunden, durch Kabel, Bluetooth oder WLAN. Um nun eine virtuelle Operation durchführen zu können, ist hohe Präzision gefordert – die gleiche, die man von einer richtigen Operation erwartet. Der kleine rote Punkt auf der Holzkonstruktion ist der Orientierungspunkt für die Operation. Ist man motorisch zu grob, "verletzt" man das Auge, was im Modell sichtbar angezeigt wird.

 

Marino Menozzi, Privatdozent an der Professur für Consumer Behavior der ETH Zürich, forscht mit seinem Team an der richtigen Haptik und Gestaltung von Operationswerkzeugen. (Source: Netzmedien)

 

Bei diesem Simulator geht es weniger um die Operation an sich als vielmehr um die Ergonomie der Operationsinstrumente. Die ETH arbeitet mit Firmen zusammen, die solche Werkzeuge für den Operationssaal herstellen. "Es gibt keine standardisierten Tests für medizinische Performance von Operationsinstrumenten", sagt Menozzi. Das wolle er ändern. "Weil wir aber eben das Design von mikrochirurgischen Instrumenten verändern wollen, in der Hoffnung, dass die Ergonomie verbessert wird und die Handhabung im Operationssaal besser funktioniert, haben wir eine Plattform kreiert, mit der man diese Aspekte ganz genau kontrollieren kann." Mit kleinen Anpassungen und Veränderungen können er und sein Team erforschen, wie sich die Ergonomie verschiedener Instrumente auf die Performance im Operationssaal auswirkt. Mit der Zeit hätten Chirurginnen und Chirurgen die Plattform von Menozzi als Übungsplattform für sich entdeckt. Er bestätigt, dass die Technologie des AR-Simulators noch in den Kinderschuhen stecke. Für die Zukunft plane er jedoch, das System weiterzuentwickeln, damit es in ein paar Jahren für die chirurgische Ausbildung regulär verwendet werden könne. "Dadurch könnte man für das Training von angehenden Chirurginnen und Chirurgen enorme Kosteneinsparungen vornehmen und Zeitprobleme umgehen."

 

AR ist bereits im Operationssaal angekommen

In der Universitätsklinik Balgrist in Zürich ist die AR-Technologie bereits im Operationssaal präsent. 2020 wurde im Rahmen einer Studie zum ersten Mal an einem lebenden Menschen mithilfe von AR operiert. Philipp Führstahl, Leiter des Research in Orthopedic Computer Science an der Uniklinik Balgrist, spricht von einem Erfolg und positiven Zukunftsaussichten für diese Operationsmethode. Statt etliche Bildschirme mit Informationen zum Patienten und einen weiteren Bildschirm für die Kameraübertragung zu haben, trägt die Chirurgin eine spezielle AR-Brille. Ebenso wie bei der AR-Brille des ETH-Simulators sind die operierenden Ärztinnen und Ärzte mit einer Hololens ausgerüstet, mit der die benötigten Informationen direkt vor das eigene Auge projiziert werden, ohne dass man den Blick von der Person auf dem Operationstisch abwenden muss. Im Juni 2020 zitiert die Uniklinik in einer Mitteilung Mazda Farshad, Leiter des Projekts und Medizinischer Spitaldirektor des Balgrist: "In der Orthopädie ist Augmented Reality der Schlüssel zu neuen Standards in der patientenspezifischen Durchführung von Präzisionsoperationen."

"Der Hauptvorteil an Augmented Reality im Operationssaal besteht darin, dass man die echte Umgebung mit computergenerierten Informationen überlagern kann", sagt Führstahl. "Das heisst, man sieht trotzdem den echten Patienten und kann die benötigten Informationen einblenden." Bisher würden die Informationen noch auf Bildschirmen im Operationssaal dargestellt, was bedeute, dass die Chirurgin ihren Blick immer wieder vom Patienten abwenden muss. Mit der AR-Technologie sei dies nicht nötig und man könne sich voll und ganz auf die Person auf dem Operationstisch konzentrieren. In den Geräten sind laut Führstahl auch zusätzliche Sensoren eingebaut, damit diese sich selbst im Raum orientieren können. In der Chirurgie habe das den zusätzlichen Vorteil, dass die ermittelten Daten gespeichert und ausgewertet werden können. Operationen sollen im Allgemeinen stärker digitalisiert werden und die Daten, die bei jedem Eingriff gespeichert werden, können bei künftigen Operationen helfen, Fehler zu vermeiden. Die Sensoren warnen die Chirurginnen und Chirurgen zudem, wenn ein potenzieller Fehler bevorsteht. Nachteile dieser Operationsmethode sind laut Führstahl bisher noch Sterilisationsvorgaben, die zu beachten sind, sowie die Tatsache, dass eine physische Brille am Kopf getragen werden muss. Das beeinträchtige ab und zu die Sicht und den Komfort der Chirurginnen und Chirurgen.

In der Universitätsklinik Balgrist wird nicht nur an den Wirbelsäulenoperationen mit AR geforscht: Die Chirurginnen und Chirurgen entwickeln die Technologie auch selbst mit. Um sich auf eine solche AR-Operation vorzubereiten, müssen sich die operierenden Ärztinnen und Ärzte mit der Technologie vertraut machen, was ihnen durch ihre Mitarbeit in der Entwicklung laut Führstahl einfacher fällt als externen Ärztinnen und Ärzten. "Trotz allem müssen sie mit der Technologie trainiert werden. Wir machen das entweder auf generischen Knochenmodellen aus Plastik oder in 3-D-gedruckten Anatomien." Der Eingriff werde am Computer geplant und diese Informationen würden dann im Operationssaal auf die Brille übertragen.

Führstahl äussert die Hoffnung, dass die AR-Technologie für Operationen in der Zukunft auch für komplexere Operationen ausserhalb der Orthopädie verwendet werden kann.

 

Die technologische Zukunft der Chirurgie

Hoeltgen, Menozzi und Führstahl sind zuversichtlich, was den Einsatz von AR im Hinblick auf Operationen anbelangt. Hoeltgen sagt, dass die Simulatoren von Virtamed bereits bei Prüfungen eingesetzt würden, um das praktische Können der angehenden Chirurginnen und Chirurgen zu testen. Er hält es für sinnvoll, dass diese Technik künftig weiter verbreitet und ausgebaut werde.

Menozzi konzentriert sich derzeit im kleinen Rahmen auf die Ergonomie von Operationsbesteck. Diese Technik soll aber weiter ausgebaut werden. Er hofft, dass sich die Technologie der ETH in einigen Jahren völlig etabliert und die Entwicklung von Operationsinstrumenten im grösseren Rahmen mithilfe von AR stattfindet. Führstahl plant, den Einsatz der am Balgrist entwickelten AR-Operationstechnik weiter fortzusetzen und in ein paar Jahren auch für andere Bereiche der Chirurgie zu verwenden.

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