Accessibility im Web

Welche Argumente für digitale Barrierefreiheit sprechen

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Als Co-Founder der Digitalagentur Liip hat Gerhard Andrey schon einige barrierefreie Webprojekte umgesetzt. Die Nachfrage nach Accessibility lässt jedoch zu wünschen übrig, wie er im Interview feststellt. Darum setzt er sich auch im Nationalrat für digitale Barrierefreiheit ein.

Gerhard Andrey, Nationalrat, Co-Founder Liip. (Source: © KEYSTONE / ALESSANDRO DELLA VALLE)
Gerhard Andrey, Nationalrat, Co-Founder Liip. (Source: © KEYSTONE / ALESSANDRO DELLA VALLE)

Sie beschäftigen sich schon seit Längerem mit dem Thema ­E-Accessibility in der Schweiz. Inwiefern haben sich Schweizer Web­sites in den vergangenen Jahren hinsichtlich Barrierefreiheit verbessert?

Gerhard Andrey: Tatsächlich ist digitale Barrierefreiheit seit Langem ein wichtiges Thema bei Liip. Kurz nach Inkrafttreten des aufdatierten Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) durften wir 2005 mit dem Seco-Magazin «Die Volkswirtschaft» eine der ersten offiziell zertifizierten Websites der Bundesverwaltung bauen. Weitere folgten. Ich dachte damals, dass damit eine Selbstverständlichkeit eingeläutet wird. Technisch war und ist E-Accessibility ja nicht wirklich ein Problem, es ist eher eine Frage der Disziplin, wie bei Cybersecurity auch. Ich bin heute aber schon etwas ernüchtert. Einerseits wurde dem Thema in der öffentlichen Beschaffung zu wenig Beachtung geschenkt oder es wurde schlicht ignoriert. Und im privaten Sektor waren nur intrinsisch Motivierte zu finden, die bereit waren, diesen Extraeffort zu leisten. Entsprechend durchzogen ist die Bilanz nach 20 Jahren BehiG, wie beispielsweise die Studien der Stiftung «Zugang für alle» eindrücklich aufzeigen. Gerade im öffentlichen Bereich hat sich die Situation insgesamt zwar verbessert, aber mit immer noch viel Luft nach oben. Und im privaten Bereich, wie beispielsweise dem immer wichtiger werdenden E-Commerce, ist der Nachholbedarf gross.

Hand aufs Herz: Wie barrierefrei sind die Digitalprojekte Ihrer Agentur?

Angefangen bei unserer eigenen Website: Die ist barrierefrei. Bei unseren Kundenprojekten schauen wir, dass die eingesetzten Technologien durch Design barrierefrei sind und wir machen teilweise den Realitätscheck mit externen Audits. Dieser Effort muss aber im Kundenbudget Platz haben. Das ist leider oft immer noch nicht der Fall.

Als Unternehmer haben Sie täglich mit Digitalprojekten zu tun. Wie hoch ist die Nachfrage nach barrierefreien Projekten?

Wir sind froh, dass nun etwas Schwung in die Sache kommt und immer mehr Anfragen kommen, welche die digitale Barrierefreiheit zwingend einfordern.

Was sind die häufigsten Hindernisse auf dem Weg zum barrierefreien Webprojekt?

Organisatorisch herausfordernd ist die Koordination, weil Barrierefreiheit verschiedene Aspekte betrifft. Entwicklerinnen, Designer und Inhaltsredakteurinnen sind auf jeweils verschiedene Weise beteiligt, eine ganzheitliche und vor allem auf die Dauer anhaltende Barrierefreiheit zu garantieren. Die technischen Herausforderungen hängen wiederum stark vom Grad der Interaktivität der Anwendung ab. Es versteht sich von selbst, dass einfachere Websites weniger Aufwand erfordern als Applikationen mit vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten. Insgesamt haben wir das aber gut im Griff, weil wir das schon seit vielen Jahren tun.  

Mit welchem Top-Argument überzeugen Sie Ihre Auftraggeber, in Accessibility zu investieren?

Abgesehen von einem eigentlich selbstverständlichen Beitrag für eine inklusive Gesellschaft, gibt es handfeste ökonomische Argumente für digitale Barrierefreiheit. Auch Suchmaschinen verstehen barrierefreie Websites nämlich viel besser, womit auch SEO einfacher wird. Überdies ist einfache Sprache auch hilfreich für Menschen ohne Leseschwäche. Und was ganz gerne vergessen geht: Barrierefreiheit erhöht die Reichweite und damit die Anzahl der Transaktionen. Engagement in Barrierefreiheit rechnet sich also unter allen Umständen.

Technologien verändern sich ständig. Ist es heute einfacher, ­zugängliche Webprojekte zu bauen als noch vor zehn Jahren?

Es ist definitiv einfacher, da einige ältere Browser wie der Internet Explorer nicht mehr verwendet werden. Dies erleichtert die technische Umsetzung der Barrierefreiheit wesentlich. Gleichzeitig machen moderne Websites und Anwendungen zwar intensiver Gebrauch von Javascript als in der Vergangenheit, aber wir haben jetzt Werkzeuge, um diesen Gebrauch auf effektive Weise zu kontrollieren. So können jetzt beispielsweise Zugänglichkeitsprobleme leichter erkannt werden, bevor der Code bereitgestellt wird, was dazu führt, dass sauberere Anwendungen veröffentlicht werden. Natürlich erfordert dies einen strengeren Prozess, aber wenn er einmal eingeführt ist, läuft das meiste automatisch ab.

Aktuell sprechen alle von ChatGPT und Co. Inwiefern wird künstliche Intelligenz das Accessibility-Problem lösen?

Wir schauen derzeit, was KI im Allgemeinen für die Barrierefreiheit bringen könnte. Wie in praktisch jedem anderen Bereich ist das Potenzial riesig, aber wir müssen sicherstellen, dass wir es immer unter Berücksichtigung der Privatsphäre und der persönlichen Situation der Nutzenden einsetzen. Konkret untersuchen wir die Möglichkeit, eine Schnittstelle zu schaffen, die Augmented Reality mit KI kombiniert, um die Kommunikation zwischen Hörgeschädigten und Hörenden zu erleichtern. Bei leistungsfähigeren Geräten könnte die KI direkt eingebettet werden, sodass die Nutzung eines externen, proprietären Dienstes überflüssig würde.

Wie kann sich eine Digitalagentur in puncto Accessibility auf dem neuesten Stand halten?

Wir beteiligen uns an gemeinschaftsorientierten Initiativen wie dem Accessibility Developer Guide oder arbeiten mit der Stiftung «Zugang für alle» zusammen. So können wir die neuesten Entwicklungen in der internationalen Gemeinschaft für Barrierefreiheit mitverfolgen. Gleichzeitig haben wir intern ein ganzes Team, das sich der Verbreitung von Wissen über Barrierefreiheit widmet und anderen Liip-Teams Unterstützung bietet.

In einer Motion fordern Sie den Bundesrat auf, sich mit verbindlichen Grundlagen für mehr digitale Barrierefreiheit im Privatsektor einzusetzen. Was würde die Annahme diese Motion konkret für ein Schweizer Unternehmen, etwa für einen Onlinehändler, bedeuten?

Wie gesagt besteht derzeit nur eine Pflicht für die öffentliche Hand, ihre Dienstleistungen digital barrierefrei anzubieten. Da die digitalen Kanäle aber mittlerweile in so gut wie allen Lebensbereichen nicht mehr wegzudenken sind und nur noch wichtiger werden, müssen wir einen Gang höher schalten. Genauso wie die Rollstuhlrampe im physischen Laden soll zum Beispiel der barrierefreie Zugang in jeden Onlineshop zur Normalität werden. 

Im März 2023 erteilte der Bundesrat dem Departement des Innern bereits den Auftrag, das Behinderten-Gleichstellungsgesetz zu überarbeiten. Warum braucht es angesichts dessen Ihre ­Motion noch?

Mit der Motion wollen wir den bundesrätlichen Bestrebungen Rückenwind aus dem Parlament verschaffen, aber auch eine klare Vorstellung formulieren, was die Zielsetzung betrifft.

Welchen Stellenwert hat das Thema digitale Barrierefreiheit bei öffentlichen Beschaffungen des Bundes?

Es ist im Prinzip schon lange eine gesetzliche Pflicht. Dass beispielsweise die aktuelle Volkszählung nicht barrierefrei umgesetzt wurde, zeigt aber, dass immer noch grosse Lücken in der Umsetzung bestehen. Ich für meinen Teil werde deshalb nicht müde, die Verwaltung zu ermahnen, ihre Pflichten ernst zu nehmen.

Webcode
QHwesGse