Fachtagung E-Accessibility 2025

Wie Neurodiversität und Barrierefreiheit zusammenfinden

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von René Jaun und dwi

Neurodiversität, chronische Erkrankungen und unsichtbare Behinderungen standen im Zentrum der Fachtagung E-Accessibility 2025. Menschen mit Autismus und Hörbehinderung zeigten auf, auf welche Barrieren sie im digitalen Raum stossen und wo sie Handlungsbedarf sehen.

Netzwoche-Redaktor René Jaun moderierte die diesjährige Fachtagung E-Accessibility. (Source: zVg)
Netzwoche-Redaktor René Jaun moderierte die diesjährige Fachtagung E-Accessibility. (Source: zVg)

Geht es um Barrieren im digitalen Raum, denken viele zunächst an Bedürfnisse von Menschen mit Sehbeeinträchtigung. Doch sie sind längst nicht die einzigen, die auf digitale Hürden stossen. Wie breit der Kreis der Betroffenen ist, zeigte die diesjährige Fachtagung E-Accessibility, die sich auf Neurodiversität, chronische Erkrankungen und unsichtbare Behinderungen konzentrierte. Die Allianz Digitale Inklusion Schweiz (ADIS) führte den Anlass dieses Jahr gemeinsam mit dem deutschsprachigen Zweig der International Association of Accessibility Professionals (IAAP) im Google Auditorium in Zürich durch. Den Anlass, moderiert von Netzwoche-Redaktor René Jaun, besuchten über 200 Teilnehmende vor Ort, während sich an die 700 Personen online zuschalteten.

Stille Betroffene

Rund 1,9 Millionen Menschen in der Schweiz - also etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung - haben Behinderungen. Doch nur wenige davon sind sichtbar, wie Manu Heim, Accessibility-Verantwortliche bei der ETH Zürich, zum Start aufzeigte. Sie nannte eine lange Liste von Beispielen, von Dyslexie über Asthma bronchiale bis zu Depressionen - alles "Zustände und Umstände, die zu Hürden im Alltag führen können". Dazu kommt: Ein beträchtlicher Teil der Betroffenen legt ihre Behinderung nicht offen: "In einer Firma mit 2000 Angestellten gibt es 300 Menschen mit Behinderungen. Davon haben 258 eine nicht sichtbare Behinderung Und davon wiederum geben 193 Mitarbeitende diese nicht preis", rechnete Heim vor, unter Berufung auf Zahlen der Stiftung Enable Me.

Auf dem Bild ist Manu Heim zu sehen, die Accessibility-Verantwortliche der ETH Zürich

Manu Heim, Accessbility-Verantwortliche der ETH Zürich, erklärte, wie viele Personen ihre Behinderung nicht offen legen. (Source: zVg)

"Unser Denken und unser Agieren unterscheidet sich deutlicher von Person zu Person, als vielen von uns bewusst ist", drückte Heim ihre Erfahrung zum Thema Neurodiversität aus. Der Begriff bezeichnet die "natürliche Vielfalt unserer neurologischen Funktionen, welche im Gehirn und im Nervensystem gesteuert werden und sich von Individuum zu Individuum unterscheiden", zitierte sie die Forscherin Simone Tuena-Küpfer. Was wir in diesem Spektrum "als gesellschaftliche Norm wahrnehmen", gelte als neurotypisch. Das Gegenteil davon ist Neurodivergent.

Gesellschaftliche Normen und Standards stellten somit Neurodivergenz her, so Heim. "Unsere Standards und unsere Normen sind für viele Menschen ideal. Für viele weitere sind sie lästig, aber bewältigbar. Aber dann gibt es Leute, für die unsere Standards und Normen zu einer Überforderung, zu einer Überlastung und sogar zu einer schweren Einschränkung führen können".

Klarer Fokus

Heim plädierte für einen offenen Umgang mit nicht sichtbaren Behinderungen. "Mit mehr Verständnis und mit mehr Bewusstsein erreichen wir mehr E-Accessibility", gab sie sich überzeugt. Die Vorzüge offener Kommunikation lobte auch Business Process Engineer Mischa Bitterli, der aus seinem Alltag mit Hyperfokus berichtete. "Was soll ich jetzt arbeiten? Wo soll ich meinen Fokus hinleiten" nannte er als Fragen, mit denen er im Alltag kämpft. Mal eben schnell den Kontext auf ein anderes Problem umschalten, ist herausfordernd. "Super angenehm" sind für ihn klare Prioritäten, das Abschalten aller Notifications und das Fokussieren auf eine konkrete Aufgabe. Diese Bedürfnisse etwa mit dem Vorgesetzten transparent besprechen zu können, sei "unglaublich wertvoll", so Bitterli.

Micha Bitterli auf der Bühne bei der Fachtagung E-Accessibility 2025

Der Business Process Engineer Micha Bitterli sprach über die Vorzüge einer offenen Kommunikation. (Source: zVg)

Auf welche Barrieren Menschen mit Autismus im Web treffen, schilderte Simone Russi, Projektleiterin Inklusion beim Swiss Science Center Technorama. Herausfordernd sind demnach "zum Beispiel Webseiten, die grelle Farben haben oder Farben, die sich irgendwie beissen". Manche Farbkombinationen könnten bei Betroffenen zu Schmerzempfindungen führen, so Russi. Gibt es Animationen oder Bilder, die nichts mit dem eigentlichen Inhalt der Seite zu tun haben, könne sie sich mitunter nicht mehr auf das Wesentliche konzentrieren.

Verheerend können sich auch Fehler auswirken: "Wenn in einem Text ein Kommafehler ist, hänge ich mich daran so auf, dass ich manchmal gar nicht mehr weiterlesen kann", erklärte die Referentin. Weitere Barrieren sind unklar strukturierte Seiten, fehlende Kontaktmöglichkeiten oder missverständlich gestaltete Captchas. "Es war auch schon so, dass ich etwas nicht bestellen konnte, weil ich nicht weiterkam."

Auf dem Bild zu sehen ist Simone Russi, die über Barrieren spricht, auf die Menschen mit Autismus im Web treffen

Simone Russi, Projektleiterin Inklusion beim Swiss Science Center Technorama, über die Hürden und Chancen des Webs für autistische Personen. (Source: zVg)

Umgekehrt, so Russi, biete das Web aber auch Chancen für autistische Personen. Etwa Arzttermine per E-Mail vereinbaren zu können, "ist schon mal tausendmal besser als per Telefon". Telefonische Kontakte seien schwierig, weil die Vorstellung, das Gegenüber mit dem Anruf bei etwas zu stören, bei ihr Stress auslösten. Besonders angenehm seien Onlinekalender, bei denen sie sich die Daten genau aussuchen könne. Und ganz generell seien Kontakte per E-Mail oder Chat oft einfacher für autistische Menschen.

"Wenn die digitalen Inhalte gut gemacht sind, dann ist das für uns Autistinnen sehr oft eine grosse Erleichterung", so Russi, "und ich glaube, was für uns angenehm ist, ist für die meisten anderen Personen auch angenehm".

Tiefste Priorität

Stefan Barac, Co-Gründer der Initiative Incluthon, präsentierte vier Gründe, um die Führungsetage von Barrierefreiheit zu überzeugen: "Sie liefert euch mehr Sicherheit, mehr Fachkräfte, mehr Innovation und Reichweite", sagte der Industriedesigner. Die Anforderungen eines barrierefreien Digitalangebots umriss er in wenigen Eckpunkten: "Es muss babyleicht sein, es muss unterbrechungsfrei sein und es muss zielgerichtet sein". Designern riet er unter anderem dazu, den Kontrast zu verbessern und die Seite nicht zu überladen - "kurz, knackig und präzise", wie er zusammenfasste. Von blinkenden und blitzenden Elementen riet er ab und empfahl stattdessen "langsame Abfolgen, denn es muss lesbar sein und es muss erkennbar sein - less is more".

Stefan Barac auf der Bühne der Fachtagung E-Accessbility

Industriedesigner Stefan Barac erläutert, wie Barrierefreiheit im Web gelingt - von klaren Kontrasten bis zu reduzierten Designs. (Source: zVg)

Seine Empfehlungen basierte Barac auf den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), den Richtlinien zur barrierefreien Gestaltung von digitalen Inhalten des World Wide Web Consortiums (W3C). Die darin versammelten über 80 Kriterien sind in drei Prioritäten eingeteilt (A für die höchste, AAA für die tiefste). Wer den in Schweizer Regelwerken definierten Mindeststandard für digitale Barrierefreiheit erreichen will, muss 55 davon erfüllen, so Barac. "Die meisten Kriterien, die für Neurodivergente spannend wären, die sind tatsächlich im AAA-Sektor", fügte er zum Schluss hinzu.

Menschen, nicht nur KI

Die gehörlose Katja Tissi, Senior Lecturer an der Hochschule für Heilpädagogik, hielt ihren Vortrag in Schweizerdeutscher Gebärdensprache. In der Schweiz gibt es daneben auch eine französische und italienische Gebärdensprache, und es sei eine Herausforderung, Informationen in allen dreien zur Verfügung zu stellen. Im digitalen Raum geschieht dies idealerweise mittels Videos, in denen eine echte Person die Informationen gebärdet. Kein gutes Zeugnis stellen gehörlose Menschen digitalen Tools aus, die mit Avataren arbeiten. Diese sogenannten Digital Signers seien qualitativ nicht ausreichend und oft auch nicht unter Einbezug betroffener Menschen entwickelt worden, so Tissi. "Nur bei einfachen, kurzen und sich wiederholenden Texten könnte ein Digital Signer möglicherweise eingesetzt werden."

Noch mehr Handlungsbedarf zeigte die Referentin bezüglich bidirektionaler Kommunikation auf: "Mein Traum ist, dass ich gebärden kann und der Computer meine Gebärde umsetzt, vielleicht in Untertitel oder in einen Text", formulierte sie einen Wunsch, den die Tech-Branche noch erfüllen muss.

Das Bild zeigt Katja Tissi, die ihren Vortrag in Gebärdensprache hielt.

Katja Tissi, Senior Lecturer an der Hochschule für Heilpädagogik, hielt ihren Vortrag an der Fachtagung in Schweizerdeutscher Gebärdensprache. (Source: zVg)

Dass sich im Bereich assistierender Technologien in den vergangenen 25 Jahren eine Menge getan hat, zeigte Petra Ritter, Accessibility Consultant der Stiftung "Zugang für alle", die - wie die Netzwoche auch - dieses Jahr ihr 25-jähriges Bestehen feiert. "Als ich mit Windows anfing, war das Surfen im Web mit einem Screenreader viel weniger komfortabel als heute. Man konnte sich damals nur den gesamten Inhalt einer Webseite am Stück vorlesen lassen. Heute ist es möglich, gezielt durch den Inhalt einer Webseite zu navigieren. Zumindest, wenn die Webseite barrierefrei programmiert ist", erklärte Ritter.

Petra Ritter auf der Bühne mit Claudio Dionisio, der sie aufgrund einer Sprachbehinderung unterstützte

Petra Ritter (l.), Accessibility Consultant der Stiftung "Zugang für alle", unterstützt von Claudio Dionisio, erläuterte die Fortschritte der assistierenden Technologien. (Source: zVg)

Auf der Bühne wurde die Referentin aufgrund einer Sprachbehinderung von Claudio Dionisio, Stiftungsrat von "Zugang für alle", unterstützt. Vielleicht übernimmt dereinst ein KI-Avatar diese Assistenzfunktion. An der Fachtagung E-Accessibility liess Ritter das Tool zumindest ein paar vorproduzierte Sätze sprechen. Allerdings riet sie dem Publikum zum Schluss: "Erstens: Betroffene mit Einbeziehen. Echte Qualität entsteht mit Menschen, nicht nur mit Normen und KI. Und zweitens: gesunder Menschenverstand ist wichtiger als Checklisten. Standards sind wichtig, aber echte Empathie ist entscheidend."

Private in der Pflicht

In zehn Jahren, wünschte sich Ritter, sollte niemand mehr fragen müssen, "ob etwas zugänglich ist, sondern nur noch, wie gut". Ob der Wunsch tatsächlich so in Erfüllung geht, dürfte auch vom Gesetzgeber abhängen. Der Bundesrat verabschiedete Ende 2024 die Botschaft für ein revidiertes Behindertengleichstellungsgesetz (Behig) ans Parlament. Stimmt dieses zu, müssten künftig auch "private Unternehmen digitale, barrierefreie Dienstleistungen anbieten", wie Markus Riesch, beim eidgenössischen Büro für die Gleichstellung vom Menschen mit Behinderungen (EBGB) für den Bereich E-Accessibility verantwortlich, in einer Podiumsdiskussion ausführte. Die vom Bundesrat vorgeschlagen Regeln ähneln laut Riesch jenen des European Accessibility Acts (EAA), den die EU 2019 verabschiedete und der 2024 in Kraft trat.

Die nach Inkrafttreten des Gesetzes neu in der EU angebotenen Produkte müssen demnach Grundsätze bezüglich Barrierefreiheit erfüllen, wie Rechtsanwalt Stefan Breuer ausführte. Das gelte für Geräte wie Geldautomaten wie auch für digitale Dienstleistungen. "Ich muss mich darauf einstellen, gegebenenfalls meine Website, meine Software für E-Books anzupassen, damit sie dann mit assistiven Technologien harmonieren". Wer diese Anforderungen nicht erfülle, könne vom Staat sanktioniert werden, erklärte Breuer weiter. In Österreich sind etwa Ordnungsgelder von 80'000, in Deutschland von bis zu 100'000 Euro vorgesehen, erklärte Nikolaus Eckereder von der österreichischen Marktüberwachungsbehörde digitale Barrierefreiheit. "Das wird grössere Unternehmen nicht sonderlich beeindrucken", räumte er ein. Allerdings könne ein Staat auch verfügen, dass ein problematisches Produkt vom Markt genommen werde oder eine Dienstleistung nicht mehr erbracht werden dürfe.

Das Bild zeigt mehre Personen während der Podiumsdiskussion: Stefan Breuer, Nikolaus Eckereder, Gianfranco Giudice, Markus Riesch, Markus Erle

Während der Podiumsdiskussion an der Fachtagung E-Accessibility sprachen (v.l.) Markus Erle (Moderation), Nikolas Eckereder, Stefan Breuer, Gianfranco Giudice, und Markus Riesch. (Source: zVg)

Schweizer Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen in der EU anbieten, sind ebenfalls an den EAA gebunden. Allfällige Bussgelder seien in Drittstaaten zwar schwer durchsetzbar, warf Diskussionsleiter Markus Erle von der IAAP DACH ein. Allenfalls, erklärte Eckereder, könnte der Importeur der Produkte belangt oder der Import der Produkte im allgemeinen gestoppt werden. Diese "Ultima Ratio" würde aber "bestimmt nicht leichtfertig getätigt".

Bereits Accessibility-Massnahmen eingeleitet hat die UBS. "Alle neuen Features, alle neuen Produkte werden von Anfang an barrierefrei umgesetzt", erklärte Gianfranco Giudice, ICT Accessibility Consultant bei der Grossbank. Doch noch hadert das Unternehmen mit seinem digitalen Erbe: "Für Mobile Banking haben wir ein nicht natives System verwendet und es hat relativ lange gebraucht, um zu verstehen und zu akzeptieren, dass dieses System nicht barrierefrei umgesetzt werden kann", erklärte er. Hier müsse die UBS das System komplett umstellen. Handeln müssten aber auch die IT-Zulieferer der Bank: "Zum Glück haben wir eine gewisse Grösse um Druck aufzubauen, damit auch Drittanbietersoftware zugänglich gemacht wird."

 

Übrigens wurde an den diesjährigen Best of Swiss Apps Awards auch eine App in der Sonderkategorie Accessibility gewürdigt. Hier erfahren Sie, wer gewonnen hat.

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