Christophe Wagnière im Interview

Ecole 42 plant IT-Talentschmiede in Zürich - das steckt dahinter

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Die Ecole 42 ist eine Informatikschule mit ungewöhnlichem Konzept: ohne Lehrpersonen, ohne Studiengebühren und ohne Zugangsbeschränkungen. Vor zwei Jahren eröffnete in Lausanne der erste Schweizer Campus - nun ist ein weiterer in Zürich geplant. Wann es losgeht und wie die Finanzierung aussieht, erklärt Christophe Wagnière, Direktor der Ecole 42 Lausanne.

Christophe Wagnière, Direktor der Ecole 42 Lausanne. (Source: Niels Ackermann / Lundi13)
Christophe Wagnière, Direktor der Ecole 42 Lausanne. (Source: Niels Ackermann / Lundi13)

Vor zwei Jahren eröffnete in Lausanne der erste Schweizer Campus der Ecole 42. Nun soll ein weiterer Standort in der deutschsprachigen Schweiz folgen. Wie steht es um das Vorhaben?

Christophe Wagnière: Wir arbeiten schon seit zwei Jahren am Projekt "42 Zürich" - bislang allerdings vor allem unter dem Radar der Öffentlichkeit. Heute, da die Finanzierung von 42 Lausanne gesichert ist und die Schule auf Hochtouren läuft, starten wir mit der Suche nach den wichtigsten Partnern, um den Campus in Zürich zu finanzieren. Parallel dazu bereiten wir uns auf die Eröffnung vor. Unser Ziel ist es, die Finanzierung bis Ende 2023 zu sichern, um den Campus im ersten Halbjahr 2024 einzurichten und am 6. Juli 2024 zu eröffnen. Das Datum liegt auf der Hand, denn sechs mal sieben macht 42. Für den Standort gibt es mehrere Alternativen. Am liebsten wäre es mir, einen Flying Campus in Kloten zu eröffnen. 

Warum haben Sie sich für die Region Zürich entschieden? 

Für uns war die Region Zürich schon immer naheliegend, allein schon aufgrund des Einzugsgebiets. Der Standort ist für vier Millionen Menschen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in weniger als einer Stunde erreichbar. Hinzu kommt: Unsere anderen Niederlassungen befinden sich beispielsweise in Tokio, Berlin, London, Wien und Paris, also in grossen Wirtschaftszentren wie Zürich. Wir wollen aber auch in Basel präsent sein. Dort möchten wir mit unseren Kollegen von 42 Mulhouse den ersten grenzüberschreitenden Campus eröffnen - vom Konzept her vergleichbar mit dem internationalen Flughafen Basel-Mulhouse, das heisst mit einem deutschsprachigen Bereich in Basel und einem französischsprachigen Bereich in Mulhouse für Studierende aus Frankreich, der Schweiz und Deutschland.

Hinter den einzelnen Ablegern der Ecole 42 stehen jeweils unterschiedliche Finanzierer. In Lausanne sind es einige Unternehmen, unter anderem die Swisscom; in Wolfsburg ist es vor allem Volkswagen. Wie sieht es mit der Finanzierung der geplanten Standorte in Zürich und Basel aus? 

Das ist das Kernproblem: ohne Projekt, keine Finanzierung; ohne Geldgeber, kein Projekt. Wir haben nun den Stier bei den Hörnern gepackt, das Projekt gestartet und zählen auf die Unterstützung der Partner, mit denen wir seit vielen Jahren zusammenarbeiten und die oft ihr Bedauern darüber ausgedrückt haben, dass wir keinen Campus in der Deutschschweiz haben. Wir können schnell vorankommen, aber nicht alleine. Wenn wir also den Sprung vom Wunschdenken zur Umsetzung schaffen wollen, brauchen wir konkrete Unterstützung. Deswegen appellieren wir an die Wirtschaftsakteure, die etwas gegen den Mangel an Informatikerinnen und Informatikern in ihren Unternehmen tun können. 

Was bekommen die Finanzierer im Gegenzug für ihre Unterstützung?

Zunächst einmal: unseren aufrichtigen Dank - es handelt sich schliesslich um eine Spende. Darüber hinaus brauchen Unternehmen aber natürlich einen Business Case. Wir bieten unseren Förderern exklusiv an, dass sie aktiv auf dem Campus rekrutieren können. Über die Hälfte unserer Studierenden absolviert heute ihr Praktikum bei einem der Sponsoren, was beweist, dass sie durch ihre Unterstützung auch einen Wettbewerbsvorteil gewinnen. Ausserdem sind wir eine Non-Profit-Organisation - eine Spende ist also auch ein Engagement im Rahmen von Corporate Social Responsibility. Und schliesslich geben uns unsere Partner auch Hinweise zu den Ausbildungsinhalten, was dazu beiträgt, dass diese auf die Bedürfnisse des Marktes abgestimmt sind.

Inwiefern können respektive dürfen die Sponsoren Einfluss auf den Lehrplan nehmen?

Wie gesagt, sie geben uns Anregungen zu den Lernstoffen, auch wenn wir klare pädagogische Leitlinien haben, die wir nicht überschreiten. Nehmen wir zum Beispiel folgendes: Wir entwickeln zurzeit ein Modul zum Thema "nachhaltige Entwicklung" respektive "sustainable coding", und zwar in Partnerschaft mit dem Energieversorger Romande Energie. Mit anderen Partnern sind wir im Gespräch, um eine Ausbildung in der Programmiersprache COBOL anzubieten. Einige Partner waren der Meinung, dass unsere Studierenden zu wenig modellieren - und so haben wir zusätzliche Workshops mit praktischen Übungen aufgegleist. Zugespitzt ausgedrückt: Wer zahlt, befiehlt. Allerdings sind wir eine Ecole 42 und müssen als solche auch gewährleisten, dass das Bildungsangebot nicht nur den Erfordernissen von regionalen Arbeitsmärkten entspricht, sondern auch kohärent ist und internationalen Standards genügt. 

Das Konzept der Ecole 42 ist ungewöhnlich. Es gibt weder Lehrpersonen noch Zugangsbeschränkungen, aber auch keinen staatlich anerkannten Abschluss – und dennoch scheinen die Absolvierenden auf dem Arbeitsmarkt begehrt zu sein. Wie kann das sein?

Vor 20 Jahren war der Bedarf an Informatikern so gross, dass man diejenigen einstellte, die sich in der Praxis weitergebildet hatten. Später nahm die Anzahl Personen mit einer Ausbildung auf Tertiärstufe zu, also stellte man vorzugsweise Diplomierte ein - aber das reichte nicht aus, um den Mangel an Fachkräften zu beheben. Folglich fand ein Umdenken statt. Heute geht es den meisten Unternehmen darum, fähige Leute einzustellen. Und die 42er-Schulen, inzwischen weltweit 50 an der Zahl, haben bewiesen, dass sie sehr kompetente Nachwuchskräfte mit technischen Profilen ausbilden, die auf dem Arbeitsmarkt fehlen. Darüber hinaus sind unsere Absolventen und Absolventinnen motivierte und sehr selbstständige Mitarbeitende. Das ist es, was die Unternehmen wollen, und deswegen finanzieren sie uns.

Wie sieht ein typischer Studiengang an der Ecole 42 aus? Und wie funktioniert das Auswahlverfahren? 

Die Schule ist offen für alle Bewerbungen von Personen ab 18 Jahren, aber man muss die beiden Selektionsphasen bestehen. In Lausanne haben wir pro Jahr 2500 Kandidierende, die den ersten Test absolvieren, der online stattfindet und zwei Stunden dauert. Nur 30 Prozent bestehen ihn. Anschliessend folgt die sogenannte "piscine" - ein vierwöchiges Bootcamp. Die Teilnehmenden können sich während dieser Phase mit der Schule, den Angeboten und Abläufen vertraut machen. Am Ende dieser zweiten Selektionsphase wählen wir die Personen aus, die über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, um die Ausbildung erfolgreich zu absolvieren. Das sind in Lausanne zwischen 150 und 200 Studierende pro Jahr. Der erste Teil der Ausbildung, den wir "common core" nennen, dauert zwischen 12 und 24 Monaten und ermöglicht es den Studierenden, von denen übrigens 80 Prozent noch nie in der IT-Branche gearbeitet haben, Junior-Entwickler zu werden. Anschliessend absolvieren die Studierenden abwechselnd Berufspraktika und Spezialisierungsmodule, um ihre technischen Fähigkeiten zu verbessern. Nach dem ersten Praktikum können sie sich entscheiden, die Schule abzubrechen und sich auf ihren neuen Job zu konzentrieren. Sie können jedoch ihr ganzes Berufsleben lang zurückkehren und die Spezialisierungen kostenlos an einer der 42er-Schulen auf der ganzen Welt absolvieren.

Das Lehrkonzept basiert auf Peer-to-Peer-Learning. Wie kann man sich das vorstellen?  

Das Peer-to-Peer-Konzept beruht auf drei Schlüsselelementen: Erstens gibt es in den 42er-Schulen die Grundregel, dass man sich gegenseitig hilft, sich Informationen von Kolleginnen und Kollegen holt und somit eine Wissensvermittlung zwischen den Studierenden stattfindet. Zweitens müssen alle Projekte von anderen Studierenden zur Validierung überprüft werden. Die Idee dahinter ist, dass die Teilnehmenden nachvollziehen können, wie ihre Mitstudierenden bestimmte Herausforderungen gelöst haben. Und drittens werden mehrere Projekte im Team durchgeführt, was wiederum die gruppendynamische Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung fördert. 

In der Ausbildung spielt Gamification eine wichtige Rolle. Was hat es damit auf sich? 

Bei der Gamification geht es um die Atmosphäre und die Art und Weise, wie man an das Lernen herangeht. Beispielsweise gehört jeder und jede Teilnehmende einer von drei Koalitionen an, für die man im Verlauf der Ausbildung Punkte gewinnen oder verlieren kann - es läuft also ähnlich wie bei den Hogwarts-Häusern in den Harry-Potter-Romanen. Zu Beginn des neuen Schuljahres veranstaltet die Gewinnerkoalition eine Halloween-Party, an der sich entscheidet, welcher Koalition sich die jeweils neuen Studierenden anschliessen. Ein weiteres Beispiel betrifft den sogenannten Altarian-Dollar, eine interne Währung von 42. Die kann man sich verdienen, wenn man für die Schule nützliche Aktionen durchführt - etwa eine Veranstaltung organisiert oder eine Prüfung beaufsichtigt - und damit Goodies oder Dienstleistungen erwerben, sich beispielsweise vom Team einen Kaffee servieren oder vom technischen Direktor die Haare schneiden lassen. Ausserdem gibt es eine Reihe von Veranstaltungen, die nicht nur lehrreich sein, sondern auch Spass machen sollen. Zum Beispiel Labs, Challenges, Hackathons und Game Jams, an denen die Teilnehmenden ein Wochenende lang ein Spiel entwerfen und entwickeln. Gamification in der Ausbildung soll den Studierenden auch vermitteln, dass man - wie bei einem Videospiel - auch mal scheitern und wieder von vorne beginnen kann.