Andreas Uebelbacher im Interview

Was KI zur Barrierefreiheit im Web beitragen kann

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Barrierefreie Websites sind noch längst nicht so verbreitet, wie sie es sein sollten. Andreas Uebelbacher von der Stiftung "Zugang für alle" spricht über die dringendsten Probleme bezüglich Accessibility im Web und über die Frage, ob KI einen Beitrag dazu leisten kann, das Internet inklusiver zu machen.

Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen bei der Stiftung "Zugang für alle". (Source: zVg)
Andreas Uebelbacher, Leiter Dienstleistungen bei der Stiftung "Zugang für alle". (Source: zVg)

Wir haben Sie zuletzt vor zwei Jahren interviewt. Seither ist eine neue Version der Richtlinie WCAG (Web Content Accessibility Guidelines), Version 2.2, erschienen. Warum? 

Andreas Uebelbacher: Weil es trotz der vielen verschiedenen Anforderungen, die bereits in den WCAG 2.1 enthalten sind, noch Dinge gibt, die verbessert werden sollten. Digitale Services sind vielfältig und sie entwickeln sich ständig weiter. Ebenso vielfältig sind die Barrieren, die für verschiedene User-Gruppen entstehen. Die neuen Inhalte der WCAG 2.2 sollen diesen Entwicklungen gerecht werden und die bisherigen Anforderungen von WCAG 2.1 ergänzen.

Was ändert sich mit den neuen WCAG für Web Developer und Webdesigner? 

Eigentlich ändert sich nicht viel, was nicht als gute UX sowieso schon lange Standard sein sollte. Wichtig ist aber sicher das Thema Authentifizierung. So haben viele Nutzende Mühe mit Logins, die einem zu viel abverlangen. Da muss man oft einen kognitiven Leistungstest bestehen, um in einen Service zu gelangen. Das ist zwar für uns alle mühsam, aber Menschen mit kognitiven Behinderungen werden dadurch direkt benachteiligt. So muss etwa das automatische Ausfüllen durch einen Passwortmanager unterstützt werden. Und ein Multi-Faktor-Prozess bleibt auch möglich, muss aber bestimmte Anforderungen erfüllen, um Benachteiligungen von Nutzenden mit Behinderungen zu vermeiden. Weiter darf der Tastaturfokus nicht verdeckt werden (zum Beispiel unter einem Sticky Header/Footer), sehr kleine klickbare Bereiche müssen vermieden werden, und Ziehbewegungen bedürfen einer One-Click-Alternative. Und schliesslich muss Hilfe (wenn vorhanden) konsistent angeboten werden, und die wiederholte Eingabe derselben Daten ist nicht zulässig (mit sinnvollen Ausnahmen, z.B. bei der Passworterstellung). Uns scheint, dass die WCAG 2.2 für die meisten guten Angebote eher wenig zusätzliches Nacharbeiten bedeuten sollten. Tatsächlich straucheln aber die Betreibenden von Web­sites in vielen Fällen auch 2024 noch immer bei Basis­anforderungen der WCAG 2.0 von 2008. 

Derzeit führt kaum ein Weg am Thema künstliche Intelligenz vorbei. Ist KI eher Freund oder Feind der Web Accessibility? Wo sehen Sie Chancen, dass KI zu mehr Barrierefreiheit im Web beitragen wird? 

Es ist wieder einmal beides. KI ist spannend, hat zweifellos viel Potenzial, und die Entwicklungen sind rasant. Aber ein wenig realistisch in Bezug auf KI zu bleiben, das täte uns in allen Bereichen gut, auch bei digitaler Barrierefreiheit. Positive Beispiele sind etwa, dass die Sprach­erkennung riesige Fortschritte erzielt hat, und so ist die direkte, automatische Untertitelung in Videocalls für gehörlose Teilnehmende eine super Sache. Ebenso kann die Bilderkennung hilfreiche Textalternativen erstellen, zum Beispiel von Social-Media-Inhalten. Aber, so wie keine Autos vollautonom fahren, obwohl uns das seit Jahren versprochen wird, so muss man weiterhin vorsichtig sein, voll auf diese Dinge zu setzen, auch beim Thema Accessibility. Und man muss gut unterscheiden zwischen der Verantwortung für Barrierefreiheit, die weiterhin voll und ganz bei den Content-Produzierenden liegt, und mehr oder weniger gut kompensierenden Notlösungen, die Nutzenden helfen, auch mal mit schlecht aufbereite­tem Inhalt halbwegs umgehen zu können. Derzeit kann KI in Teilbereichen eine solche Notlösung sein, aber sie arbeitet fehlerhaft und sie entbindet niemanden von der Verantwortung, gut zugängliche Inhalte zu produzieren. Wer sich voll und ganz auf solche Lösungen verlässt, kann auf die Nase fallen – das musste etwa ein kantonales Sportamt feststellen, als in einem Dialektvideo in den nur auto­matisch erstellten Untertiteln mal eben aus "Beratungsleistungen" das peinliche "Erotikleistungen" wurde. Und so wie automatische Accessibility-Tests bislang nur einen Bruchteil der relevanten Accessibility-Probleme in digitalen Angeboten finden, können sie diese auch nicht zufriedenstellend automatisch korrigieren. Vorschläge im Sinne von "Accessibility has failed … jetzt soll es die KI regeln" sind meines Erachtens komplett hanebüchen.

Schon etwas länger als den KI-Hype gibt es Accessibility Layers. Was muss man sich darunter vorstellen? 

Accessibility Layers (oder Overlays) sind auch so eine Notlösung, die das Grundproblem (unzureichend aufbereitete Inhalte) nicht behebt, sondern oft mehr schadet als nützt. Das soll wie ein zusätzliches Add-on auf einer Website funktionieren, und diese nachträglich barrierefrei werden lassen, auch wenn die Website nicht zugänglich umgesetzt ist. Was sich ergibt, ist dann eine Art überdimen­sionierter Cookie-Banner, der Nutzende nach ihren potenziellen Behinderungen beziehungsweise Bedürfnissen befragt. An­schlies­send wird die Website dem Profil gemäss angepasst, etwa mit höheren Kontrasten angezeigt.

Wie ist Ihre Erfahrung? Werden Websites mit Accessibility Layers zugänglicher? 

Nein, Websites werden nicht ausreichend zugänglicher, weil solche Accessibility Layers (oder Overlays) viele grundlegende Barrieren nicht beheben können. Und sie können sogar neue Probleme erzeugen. Deshalb sind diese Overlays kein Ersatz dafür, ein Web-Angebot barrierefrei umzusetzen. Und genauso, wie wir alle Cookie-Banner inzwischen hassen, geht es Umfragen zufolge Menschen mit Behinderungen mit Accessibility Overlays: Sie mögen diese gar nicht. In klagefreudigeren Kulturen als bei uns werden Betreiber von Websites, die solche Overlays einbinden, dann mit Klagen eingedeckt, da sie damit ihrer Verantwortung zu barrierefreiem Content nicht nachkommen. Und noch eine ganz leidige Mode soll hier erwähnt werden, die in letzter Zeit um sich greift: Websites mit ­einem Umschalter "Barrierefreiheit an/aus". Wenn man diesen umschaltet, sieht man meist eine schwarz-weisse Trauerversion der Website ohne Bilder (die notabene auch vollständig sehende Anwenderinnen und Anwender mit motorischen Einschränkungen nutzen sollen), und der halbe Content der Standardversion wird ausgeblendet, weil er nicht zugänglich verfügbar ist. Lassen Sie mich deutlich sein: Das ist ein Schlag ins Gesicht aller Menschen mit Behinderungen und aller, die sich für Inklusion einsetzen. Das entspricht dem "wieder mal kaputten Rollstuhllift am Hintereingang", das ist kein gleichberechtigter Zugang. Als Stiftung "Zugang für alle" raten wir seit über zehn Jahren von solchen Lösungen ab; das geht erfahrungsgemäss immer schief. Ärgerlich ist, wenn Betreiber von Websites, welche die Barrierefreiheit umsetzen möchten oder teils auch gesetzlich zur Umsetzung verpflichtet sind, solchen Angeboten "auf den Leim gehen". Noch ärgerlicher ist es, wenn Anbieter solcher Lösungen in aller Dreistigkeit mit dem guten Namen unserer Stiftung für solche schlechten Lösungen werben – was natürlich nicht stimmt. Wir würden nie zu einer solchen Lösung raten – oder sie gar zertifizieren.

Sie sagten im letzten Interview, es wäre hilfreich, "wenn die verschiedenen Aktivitäten in der Schweiz zum Thema Barrierefreiheit (…) in einem übergreifenden Netzwerk besser aufeinander abgestimmt würden". Gibt es aktuell irgendwelche Bemühungen in Richtung eines solchen Netzwerks? 

Ja, inzwischen gibt es diese Bemühungen, mit ADIS, der Allianz Digitale Inklusion Schweiz. Die Allianz soll die verschiedenen Akteure vernetzen, Aktivitäten besser auf­einan­der abstimmen und die digitale Inklusion in der Schweiz fördern. Die Gründungsveranstaltung ist für Herbst 2024 geplant. Wir sind gespannt, was sich damit erreichen lässt. 

Im Gespräch mit Web-Designern hörte ich früher oft, in der Schweiz werde Web Accessibility in Ausbildungen nicht zureichend thematisiert. Wie schätzen Sie die Situation ein? 

Inzwischen tut sich einiges: Das Thema Barrierefreiheit wird mehr und mehr allgegenwärtig und insbesondere bei Bildungsinstitutionen wie (Fach-)Hochschulen gibt es inzwischen teils grossangelegte Vorzeige-Projekte, die alle Ebenen des Themas umfassen, nicht nur den digitalen Bereich. Aus meiner Sicht stellen sich dabei zwei Herausforderungen: Zum einen der Ausgangspunkt, man startet oft auf einem tiefen Niveau, da der bisherige Kenntnisstand um digitale Barrierefreiheit bei allen Akteuren niedrig ist. Man muss häufig erstmal noch sensibilisieren, bevor man Wissensaufbau betreiben kann. Und auch diejenigen, die Web- oder App-Entwicklung unterrichten, werden kaum in Kürze so nebenbei zu Accessibility-Spezialisten. Damit zusammenhängend besteht das Problem der mangelnden Durchdringung: Wenn Accessibility in Ausbildungen thematisiert wird, dann als separates Spezial-Modul. Dieser Ansatz ist aber eigentlich nur begrenzt sinnvoll, weil so angehende Entwicklerinnen und Entwickler zuerst einmal Umsetzung lernen, und später dann im Spezial-Modul, dass das alles (zumindest teilweise) falsch war, was sie da gelernt hatten. Das bleibt ineffizient, und führt auch nicht zum Aufbau von gut verankertem Erfahrungswissen zum Thema Accessibility. In der Folge kennt man es zwar, aber man kann es nicht wirklich. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel, es gibt Fachhochschule-Dozierende, die sich seit Jahren stark ums Thema bemühen. 

In der EU treten bald schon der European Accessibility Act (EAA) und dazugehörende staatliche Gesetze in Kraft. Sie schreiben unter anderem barrierefreien Onlinehandel vor. Inwiefern, denken Sie, werden sich diese Gesetze auch auf hiesige Unternehmen auswirken? 

Da gibt es zweifellos Auswirkungen, und wir spüren diese bereits in Form zunehmender Anfragen zum Thema, zu Schulungen, und zu Projektbegleitungen, durch schweizerische Unternehmen. Und dabei muss man festhalten, dass der EAA in der Schweiz nicht gilt. Es gibt keine Verpflichtung, den EAA in der Schweiz in nationalem Recht umzusetzen, da es keine entsprechenden Rahmenverträge gibt. Analog zu einer DSGVO gilt aber auch, dass hiesige Unternehmen, die am EU-Binnenmarkt teilnehmen, vom EAA betroffen sind. D.h., dass sie ihre digitalen Dienstleistungen (z.B. den Webshop) ab Ende Juni 2025 gemäss WCAG 2.1 AA barrierefrei anbieten müssen.

Auch der Bund war aktiv. Sein Vorschlag eines revidierten Behindertengleichstellungsgesetzes enthält auch für die Privatwirtschaft eine "Verpflichtung, Online-Dienstleistungen barrierefrei anzubieten". Dürfen Menschen mit Behinderung auf mehr Web-Accessibility hoffen?

Ja, wir gehen sehr davon aus, dass auch die Schweiz hier künftig die digitale Verantwortung wahrnehmen wird, auch wenn bürgerliche Kreise im Parlament derzeit noch etwas Mühe haben mit diesem Fortschritt. Da wird das Thema weiterhin nicht verstanden als Chance, digitale Kompetenzen aufzubauen. Die Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) ist aktuell aber in der Vernehmlassung. Sie nimmt die Vorgaben des EAA für die Schweiz auf, und wir sind diesbezüglich zuversichtlich. Das wird die Anforderung digitaler Barrierefreiheit auch für private Anbieter von Dienstleistungen, Betreiber von Websites, Mobile Apps etc. bedeuten. Das revidierte BehiG soll Anfang 2027 in Kraft treten, und das scheint uns nun langsam absehbar zu sein. Wobei auch hier wieder Realismus gefragt ist: Schon heute müssten digitale Behördendienstleistungen in der Schweiz barrierefrei sein; allzu viele sind es aber weiterhin nicht. Und diese Diskrepanz zwischen den bestehenden Anforderungen und der tatsächlichen Umsetzung wird uns leider auch künftig erhalten bleiben. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. 

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