Jubiläum: 25 Jahre "Netzwoche"

Ein Vierteljahrhundert zwischen Hype und Disruption

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von Christof Zogg, Swisscom und Best of Swiss Web, Apps & Software

Wer lange in der Schweizer IT-Branche unterwegs ist, hat zahlreiche technologische Hypes miterlebt – solche, die wie Web, Mobile und Cloud unser Leben transformiert haben, und andere, die als Strohfeuer fast wirkungslos verpufften. Hier lesen Sie, wie man die einen von den anderen unterscheiden kann.

Christof Zogg, Head of Business Transformation bei Swisscom und Jury Chairman von Best of Swiss Web, Apps & Software. (Source: zVg)
Christof Zogg, Head of Business Transformation bei Swisscom und Jury Chairman von Best of Swiss Web, Apps & Software. (Source: zVg)

Im April 2000 erschien die Erstausgabe der «Netzwoche» – zeitgleich mit dem Anfang vom Ende der Dotcom-Blase. Am 10. März des gleichen Jahres hatte der NASDAQ-Index sein zwischenzeitliches Allzeithoch von 5048 Punkten erreicht. Von da an ging’s für rund zwei Jahre nur noch abwärts. Vorher hatten sich die Internetaktienkurse immer höher geschraubt und die Internet-Start-ups immer wildere Partys gefeiert und ebensolche Businessideen verfolgt. Für die Jüngeren unter den Leserinnen und Lesern: einfach mal ChatGPT nach Webvan, Pets.com oder Boo.com prompten.

Ein paar Jahre zuvor war ich nach dem Studium bei einer Webagentur eingestiegen, wo wir – gut schweizerisch etwas kleiner und bescheidener – nach bestem Wissen und Gewissen versuchten, Kunden für Weblösungen zu gewinnen und glücklich zu machen und das Momentum des Hypes für unser Wachstum zu nutzen. Ich durfte an der damaligen Internet Expo meine erste Keynote halten. Und 1999 war dann der Fachkräftemangel so gross, dass selbst der in seiner Freizeit Handy-Klingeltöne vertreibende Koch schliesslich bei uns als Front-End Deve­loper angestellt wurde.

Der Rest ist bekannt: Unsere Branche ist im Unterschied zum Bankwesen nicht systemrelevant; und so wirkte der Markt nach Volkswirtschaftslehrbuch und korrigierte die Übertreibungen erbarmungslos. Unsere Agentur stabilisierte sich auf halbiertem Belegschaftsniveau und ich zog alsbald ein Haus weiter mit der Erfahrung eines ersten durchlebten Hype-Cycles im Gepäck.

Von Hypes und Zyklen

Und wirklich schien sich, aus ein paar Jahren Distanz betrachtet, das Internet beziehungsweise World Wide Web ziemlich genau an das gleichnamige, vom Beratungsunternehmen Gartner markenrechtlich geschützte Drehbuch zu halten. Eine technologische Innovation weckt die Neugier der Anwender. Es kommt in der Folge bei euphorischer Stimmung zu überzogenen Erwartungen. Diese führen zwangsläufig zu Enttäuschungen, die sich aber mit zunehmender technologischer Reife verflüchtigen. Die in der Übertreibungsphase gemachten Erkenntnisse resultieren in einer realistischeren Technologieeinschätzung. Das führt – die Story schliesst mit einem Happy End – zu hoher Akzeptanz, breiter Nutzung und wirtschaftlichem Nutzen.

Zugegeben, bei der kürzlichen Abstimmung über die E-ID war die digitale Akzeptanz noch mässig hoch, aber über die breite Nutzung herrscht kein Zweifel. Überprüfen Sie dazu einfach einmal den Activity Report der Smartphone- und Browsernutzung ihrer Kinder oder fragen Sie sich, welche Produktkategorie sie noch nie online erworben haben. Bei mir wären das Haustiere (wobei, wenn ich welche hätte, wäre ich nicht sicher, ob ich einem UX-mäs­sig gut gemachten Katzen-Konfigurator widerstehen könnte …).

Mene Mene Tekel

Und auch die weiteren, digitalen Technologien, die ich beobachten, beraten und implementieren durfte, durchliefen mehr oder weniger klassisch das Modell des Hype Cycles: die Cloud (2006: Amazon lanciert AWS), das Mobile (2007: Apple verkündet das iPhone) und die KI (2022: Open­AI lässt ChatGPT vom Stapel). Nur tauchten über die Zeit immer mehr technologische Innovationen auf, deren Hype sich im Nachhinein eher als Strohfeuer denn als Transforma­tion entpuppte. Diese Innovationen schienen im Tal der Tränen auf ewig festzustecken oder zumindest ein Nischendasein zu fristen: Ich denke da etwa an die prognostizierte Software-Integrations-Revolution mittels Enterprise Service Bus, die Produktionsrevolution mittels 3-D-Drucker und die Mobilitätsrevolution mittels Segway.
Ähnlich wie der babylonische König Belsazar einst von der unsichtbaren Hand Gottes gewogen und für zu leicht befunden wurde, so fällt die unsichtbare Hand des Marktes zuweilen gnadenlos und unbestechlich ihr Verdikt über solch vermeintliche Disruptionen. Die Story endet dann ohne Rosamunde-Pilcher-Schluss als Tragödie beziehungsweise mit einem Abschreiber für alle, die basierend darauf Firmen gegründet, Software beschafft und Innovationsprojekte realisiert haben. Gemäss einer Studie des "Economists" aus dem Jahre 2024 ("Artificial intelligence is losing hype") handelt es sich beim Hype Cycle mehr um die Ausnahme als um die Regel. Vier von fünf Technologien würden sich also genau nicht an das Modell halten und so wie vorher schon Web3, Second Life, die Blockchain oder 3-D-TVs niemals massenhafte Verbreitung erfahren.

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen

Und so stellt sich eine Frage von fast schon biblischem Ausmass, nämlich: Wie kann der Hype von der Disruption oder präziser gesagt, die transformative von der transitorischen Technologie unterschieden werden?

Wie auch beim Aktienhandel gilt: Hinterher hat es jeder gewusst, guter Rat ist aber vorher teuer. Und so beachte ich neben dem erfahrungsgestählten Bauchgefühl erstere beiden Regeln und ignoriere, so weit es geht, letztere Indikatoren.

Ein guter Hinweis auf eine potenzielle Disruption ist erstens ein täglicher Anwendungsfall (= ich habe ChatGPT für ­Recherchezwecke zu diesem Artikel ein knappes Dutzend Mal beansprucht) und ein kritischer Anwendungsfall, wenn das digitale Erlebnis zwar magisch ist, ein einmaliges Ausprobieren aber das Interesse schon weitgehend stillt (= mit Apple Vision Pro ein 3-D-Video betrachten). Diese Daumenregel ist auch bekannt als Zahnbürsten-Test und wird bei Googles Produktentwicklung angewendet. Sie besagt: Eine Technologie ist dann relevant, wenn ich sie zwei bis dreimal pro Tag nutze und sie mein Leben verbessert.

Zweites Kriterium ist der subjektiv wahrgenommene Nutzen. Sprich: Die Technologie kann etwas persönlich Nützliches 10-mal besser, schneller oder einfacher. Dieses Gefühl habe ich so ziemlich jeden Monat, wenn ich wieder eine neue GenAI-Funktionalität für mich entdecke und in meine Arbeitsmethodik integriere wie etwa lange Texte zusammenfassen oder übersetzen, Bildmaterial für meine Präsentationen generieren, verpixelte Logos reinzeichnen, die Verfügbarkeit von E-Commerce-Artikeln mit Benachrichtigungen tracken oder natürlichsprachliche Datenbankabfragen tätigen.

Keine allzu guten Indikatoren liefern dagegen das Tracken von Start-up-Gründungen und das Studieren von ebensolchen Pitch Decks beziehungsweise die in Jungunternehmen investierten Summen an Risikokapital. Denn beide Arten von Akteuren lassen sich von Hypes blenden, unabhängig davon, ob dahinter im übertragenen Sinn ein Ofen dauerhaft heizt oder nur ein Strohfeuer lodert.

Happy Birthday, "Netzwoche"!

Was hat das alles mit der Jubilarin zu tun? Nun, die "Netzwoche" ist auf dem Höhepunkt der Webblase entstanden und feiert vielleicht – wir werden es in wenigen Jahren wissen – auf dem Gipfel der überzogenen Erwartungen von (generativer) KI ihr 25-jähriges Bestehen. Ihre DNA selbst ist also gewissermassen geprägt von den Hype-Zyklen. Doch rückblickend darf man festhalten, dass ihre Gründung unter einem guten Stern stand: Sie wählte mit dem Web (aka Netz) als Anker eine der wenigen, unzweifelhaft transformatorischen Technologien. Stellen wir uns vor, es wäre die "3-D-Druck-Woche", "Metaversewoche" oder "Blockchainwoche" geworden. Es gäbe heute nichts mehr zu feiern.

Webcode
rdMX6xhm