Women in Tech

So begeistert die Schweiz mehr Frauen für die IT

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Noch immer entscheiden sich Frauen in der Schweiz selten für ein Studium in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Zwar existieren viele Erklärungsversuche für das geringe Interesse und es gibt MINT-Förderprogramme, doch die Ergebnisse sind ernüchternd. Es gibt viel zu tun.

(Source: mediaphotos)
(Source: mediaphotos)

Als Kind wollte Marta Martínez-Cámara LKW-Fahrerin werden und damit in die Fussstapfen ihres Vaters treten. Obwohl sie dafür ausgelacht wurde, bestärkte ihr Vater sie darin. Heute arbeitet Martínez-Cámara als Data Scientist bei einem Berner Start-up – als einzige Frau im 17-köpfigen Team. Das Bild des Ungleichgewichts zwischen Männern und Frauen in ICT-Unternehmen ist bekannt. Frauen, die Berufe in einer männerdominierten Branche erlernen, sind noch in der Minderheit.

In der Schweiz ist die Nachfrage nach ICT-Fachkräften in den letzten Jahren enorm gestiegen. Als Hochtech­nologiestandort ist die Schweiz auf gut ausgebildete Fachkräfte in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) angewiesen, wie die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften im "MINT-Nachwuchsbarometer Schweiz" schreibt. Im Jahr 2017 erfasste die Schweizerische Arbeitskräfte­erhebung (SAKE) statistisch rund 200 000 ICT-Fachkräfte in der Schweiz mit einem Frauenanteil von nur etwa 15 Prozent.

Das Geschlechter-Ungleichgewicht in ICT-Berufsfeldern gilt laut einer Studie der Berner Fachhochschule aus zwei Gründen als problematisch:

  • Zentrale Schlüsseltechnologien werden von kaum diversifizierten Belegschaften konzipiert. Diese fehlende Vielfalt in Arbeits- und Projektteams verhindert Möglichkeiten zu innovativeren Produktentwicklungen.

  • Chancen auf gutbezahlte und herausfordernde Arbeitsplätze werden von Frauen wenig genutzt.

Die ICT-Branche hat ein Image-Problem

Das Engagement von Frauen in der ICT-Branche scheitert laut "Educa.ch", dem Schweizer Medieninstitut für Bildung und Kultur Genossenschaft, nicht allein aufgrund von persönlichen Neigungen, sondern ebenso an beruflichen Perspektiven, die jungen Frauen in diesem Berufsfeld geboten werden. Mädchen und jungen Frauen sollten die MINT-Fächer zumindest als Berufsperspektive in Betracht ziehen. "In der Anhebung der Frauenquote liegt ein gros­ses Potenzial", stimmt Andreas Kaelin, Präsident von ICT-Berufsbildung Schweiz, dem FHNW-Fachbericht zu. Besonders gegenüber Kindern und Jugendlichen müsse das Bild der ICT-Berufe besser repräsentiert werden. Ein Informatiker sei nicht "der im Keller sitzende Mensch, der autistisch Applikationen entwickelt", so Kaelin. Eine der vielen Massnahmen von ICT-Berufsbildung Schweiz sei deshalb, von den Plakaten wegzukommen, die ICT-Fachkräfte vor "Kästen mit Kabeln" präsentieren. Doch auch Bund, Kantone, Bildungsinstitutionen, Unternehmen und Eltern müssten ihren Beitrag dazu leisten.

Bisher gelang es der Branche nicht, das ungenutzte Potenzial an Frauen auszuschöpfen, wie die FHNW in einem Fachbericht schreibt. Darin ist auch zu lesen, dass das Image der ICT für viele junge Frauen – und Männer – wenig attraktiv sei oder sie sich eine ICT-Ausbildung nicht zutrauten. Die Frage laute, wie das Image der ICT-Berufe verändert werden könne, um es für mehr Zielgruppen attraktiver zu gestalten.

Frühes, aber kindgerechtes Lernen

In den Schulen liegt für Kaelin der Schlüssel für das Problem des geringen Frauenanteils in der Schweizer ICT-Branche. Man müsse schon in den Primarschulen und Kindergärten anfangen. In skandinavischen Ländern werden Kinder bereits im Kindergartenalter mit Programmieren und Robotik konfrontiert. Für Serge Frech, Geschäftsführer von ICT-Berufsbildung Schweiz, ist das allerdings zu früh. "Ein Kind soll auch kindgerecht lernen können."

Seit 2011 verfolgen Bund und Kantone das gemeinsame Ziel, Kinder und Jugendliche – vor allem junge Mädchen und Frauen – für ein Studium in den MINT-Fächern zu begeistern. Gemäss einem Bericht des Bundesrates kann bei Kindern das Interesse an MINT-Themen am besten zwischen dem ersten und dem fünften Lebensjahr geweckt werden. In Kindergärten und Primarschulen würden allerdings Technik und Wissenschaft den Mädchen nicht in gleichem Ausmass zugänglich gemacht wie den Jungen.

Informatik und Technik in die Lehrpläne aufzunehmen, ist laut "Educa.ch" ein erster Schritt. Dies soll in der deutschsprachigen Schweiz mit der schrittweisen Einführung des Moduls "Medien und Informatik" im Lehrplan der obligatorischen Schule erreicht werden. Der Bund legte vor einigen Monaten fest, dass Informatik an Mittelschulen spätestens mit Beginn der Gymnasialstufe 2022/2023 obligatorisch wird.

Langfristige Massnahmen notwendig

MINT-Initiativen sind eine weitere Massnahme, um mehr Mädchen und Jungen für die MINT-Fächer zu begeistern. "Wir brauchen MINT-Initiativen, weil die Berufe in diesem Bereich stark auf den Nachwuchs angewiesen sind", sagt Frech. Es brauche jedoch längerfristige Massnahmen, um dies auch nachhaltig in den Köpfen der Eltern und Lehrer zu verankern.

Das dachte sich auch Martínez-Cámara. Als Informatik-Doktorandin an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) sprach sie mit einer Freundin darüber, wie schwer es sei, als Frau immer in der Minderheit zu sein. Damals hätten sie beschlossen: "Hören wir auf, uns zu beschweren und tun wir etwas dagegen." Sie veranstalteten einen experimentellen, eintägigen Workshop für Mädchen im spanischen Belorado, dem Heimatdorf von Martínez-Cámara. Dieser sei ein voller Erfolg gewesen. Die Mädchen hätten am Workshop gelernt, was Ingenieure tun und wie man einem Computer sagt, was er tun soll. Ausserdem hätten sie wochenlang nicht aufgehört, mit ihren Eltern und Freunden über den Workshop zu sprechen. Im September 2017 beschloss die Informatikerin, zusammen mit ihrer Freundin "GirlsCoding.org" zu gründen. Das Ziel der Organisation ist laut Website, Kinder im Alter zwischen 9 und 16 Jahren – und insbesondere Mädchen – zu motivieren, etwas über Informatik zu lernen. Ihre Neugierde soll geweckt und ihre Kreativität durch Workshops gefördert werden.

Mädchen brauchen weibliche Rollenvorbilder

Die Erziehung spielt laut Frech eine der wichtigsten Rollen. Es sei wichtig, dass Eltern ihre Töchter in deren technischen und informatischen Fähigkeiten bereits früh bestärken, stimmt auch Béatrice Miller von der Akademie der Wissenschaften Schweiz zu. Mädchen wie auch Jungen sollten Erfolgserlebnisse bei praktischen Arbeiten im Familienalltag ermöglicht werden. Dabei sei Lob von männlichen Bezugspersonen besonders wertvoll.

Doch oft fehlen auch die Vorbilder und es herrschen Gender-Stereotypen vor, wie Martínez-Cámara auf "GirlsCoding.org" schreibt. Das mache Informatik bei Frauen weniger beliebt. Auch sie sei von ihrer Familie und Lehrern immer ermutigt worden und hätte es ohne Unterstützung und Vorbilder nicht geschafft, sagt sie. Deshalb versuche sie, Mädchen zu unterstützen und ihnen Zugang zu Technik zu ermöglichen. "Es ist wirkungsvoll, wenn Mädchen weibliche Rollenmodelle aus Technik und Informatik kennenlernen", sagt Miller. In den letzten Jahren seien hunderte MINT-­Initiativen wie die von Martínez-Cámara entstanden. Eine Auswertung der Akademie der Wissenschaften Schweiz bei fast 700 ausserschulischen Schweizer MINT-Initiativen habe gezeigt, dass insbesondere viele Angebote in Naturwissenschaften und Technik entstanden seien, deutlich weniger in Informatik und am wenigsten in Mathematik. Trotz des Einsatzes und Enthusiasmus zeigten Statistiken, dass die verschiedenen Initiativen in den letzten Jahren kaum etwas dazu beigetragen hätten, mehr weibliche Fachkräfte für den MINT-Bereich zu gewinnen.

"Die Zahl der Lehrstellen stagniert"

Laut einem Bericht des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation SBFI wurden im Jahr 2017 rund 19 500 Lehrstellen in den Technischen Berufen angeboten. Rund 1000 Lehrstellen gingen dabei an Mädchen. 2011 waren es rund 17 500 Lehrstellen, davon wurden 1500 von Mädchen besetzt. Während die Anzahl angebotener Lehrstellen für die Technischen Berufe also steigt, stagniert der Anteil weiblicher ICT-Lernenden. Die Bemühungen, Lehrstellen zu schaffen, waren laut ICT-Berufsbildung insofern ungenügend, als dass sich der zusätzliche Bildungsbedarf in den letzten Jahren nicht verringert habe. "Die Zahl der Lehrstellen stagniert zurzeit", so Frech weiter.

Gemäss ICT-Fachkräfteprognose 2026 wird selbst bei einer Verdoppelung oder Verdreifachung der Lehrstellen der benötigte Bedarf nicht gedeckt werden können. Deswegen sollten alle Unternehmen, die ICT-Fachkräfte beschäftigen, vermehrt Lehrstellen schaffen und ihre Mitarbeiter in ICT-Weiterbildungen schicken.

Unternehmen müssen sich anstrengen

Eine Schlüsselrolle für mehr weibliche ICT-Fachkräfte kommt laut dem Bericht des SBFI den Unternehmen der MINT-Branche zu: Sie müssen die Bedingungen herstellen, die es für Frauen attraktiver machen, sich für einen Beruf in dieser Branche zu entscheiden. Viele ICT-Unternehmen sind mittlerweile bei der Förderung von (zukünftigen) weiblichen ICT-Fachkräften äusserst engagiert. "Unternehmen müssen sich speziell um Frauen bemühen, indem sie die richtigen Bedingungen schaffen", sagt Michael Späth, Chapter Lead Talents, Sourcing & Succession bei Swisscom. Absolut essenziell sei Flexibilität bei den Arbeitszeiten. Auch die Möglichkeit, von zuhause arbeiten zu können, schaffe etwa jungen Familien Luft. "Swisscom bietet generell in vielen Bereichen flexible Arbeitszeitmodelle an, und zwar für Frauen und für Männer", sagt Späth, der selbst Teilzeit arbeitet. Per Laptop und Handy sei man heutzutage gut erreichbar, was die Möglichkeit von Homeoffice eröffne. Es sei auch kein Stigma, wenn eine Frau schwanger werde oder ein Mann nicht Vollzeit arbeiten wolle, weil er die Kinder betreuen möchte, so Späth.

Teilzeitarbeit gleich Frauenarbeit

Swisscom bietet laut Späth viele Teilzeitstellen an. Dabei zeige sich jedoch, dass die Chance auf eine Karriere mit sinkendem Beschäftigungsgrad ebenso sinke. Auch bei Swisscom. Zudem sei es problematisch, dass in der Schweiz Frauenarbeit häufig mit Teilzeitarbeit gleichgesetzt werde.

Um Mädchen Einblick in technische Berufe zu ermöglichen, veranstaltet Swisscom als weitere Massnahme die "Digital Days for Girls". Mädchen erhalten dort die Gelegenheit, unter anderem Multimedia-Erfahrungen zu sammeln, einen Roboter zu programmieren und mehr über die ICT-Trends der Zukunft zu erfahren, wie das Unternehmen auf der Website schreibt. Bei Swisscom werde "das stereotype Bild", dass Männer IT-Cracks seien und Frauen dafür besser mit Menschen umgehen könnten, ganz anders empfunden. "Sowohl Frauen als auch Männer müssen beides mitbringen. Wir stellen keine Person ein, nur weil sie weiblich – oder männlich – ist, sondern weil sie uns überzeugt hat, sowohl in technischer als auch im menschlicher Hinsicht", sagt Späth. "Frauen bringen eine andere Perspektive in ein Team", so Späth. Das höre man auch von ganz klar männerdominierten Teams innerhalb von Swisscom. Dadurch entstehe eine ganz andere Dynamik und das sei nur positiv. Generell müsse man darauf achten, dass man Frauen in einem männlich dominierten Umfeld auch Raum schaffe.

Der Weg ist noch weit

Um das Interesse von Mädchen und Frauen für die MINT-Fächer zu wecken, bedarf es auch einer Veränderung in den Köpfen. Ein Umdenken ist bei den Führungskräften, ICT-Fachkräften, den Mädchen und Frauen selbst, in ihrem privaten Umfeld und vor allem in den Bildungsinstitutionen nötig. Das Grundproblem ist damit jedoch noch nicht gelöst: der Mangel an Bewerberinnen. Mädchen tun sich immer noch schwer damit, sich mit naturwissenschaftlichen Berufen anzufreunden. Es gibt kaum Rollenvorbilder und zu wenig Berührungspunkte im Stadium der Berufsfindung. Jungen und Mädchen reagieren zwar laut Miller sehr positiv auf Schnupperangebote, dennoch werde sich nur ein Teil der möglichen Kandidatinnen dann auch für eine Karriere in der ICT-Branche entscheiden. Zu stark ist noch die Gegenströmung in der Gesellschaft und zu schwach wirken die wenigen Vorbilder, wie Miller feststellt. Für die zukünftige Schweizer ICT-Branche erhofft sich Frech "ausreichend und gut ausgebildete Fachkräfte, eine hohe Frauenquote und eine hohe Beschäftigung der ICT-Fachkräfte über 50". Späth dagegen gibt zu bedenken, dass es für Frauen schwer bleiben werde, solange die Branche, insbesondere die IT-Branche, so stark von männlichen Mitarbeitern dominiert werde.

Martínez-Cámara, die kürzlich zu den 100 "Digital Shaper" der Schweiz gekürt wurde, steht stellvertretend für die vielen Förderer und Organisatoren von MINT-Initiativen. "Die ICT-Branche verändert die Welt. Sowohl Männer als auch Frauen sollten daran teilhaben", ist sie überzeugt. Das gesellschaftliche Umdenken braucht wohl noch viel Zeit und Engagement. Unternehmen sind aber bereit, entsprechend zu investieren. Doch klar ist auch: Der Weg ist noch weit.

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