Google Accessibility Discovery Center

Wo Barrierefreiheit erlebt und gemeinsam gefördert werden soll

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von René Jaun und lpe

Google hat in Zürich ein Accessibility Discovery Center eröffnet. Wer will, kann dort etwa assistive Technologien ausprobieren oder gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen neue barrierefreie Produkte entwickeln. Die Idee erntet viel Lob, liesse sich aber noch erweitern.

(Source: Petra Wolfensberger)
(Source: Petra Wolfensberger)

Pünktlich zum diesjährigen Global Accessibility Awareness Day am 16. Mai hat Google sein neues Accessibility Discovery Center (ADC) eingeweiht. Es befindet sich an der Europaallee 8 beim Hauptbahnhof Zürich und soll ein Ort sein, "in dem Menschen mit und ohne Behinderung zusammenkommen, um mehr über barrierefreie Technologie zu lernen und um gemeinsam inklusive Lösungen und Produkte zu entwickeln", wie der US-amerikanische Tech-Konzern schreibt.

Der Eröffnungsanlass war mit über 100 Teilnehmenden besucht. "Wir hatten etwa 50 Personen erwartet, nun sind es etwas mehr geworden", kommentierte Patrick Schilling, AI Customer Activation Manager & ADC Lead von Google Schweiz am Launch-Event.

Begegnungen und Lösungen

In ihren Ansprachen wiesen viele Gäste darauf hin, wie Technologie zu mehr Barrierefreiheit beiträgt. So erklärte etwa Nationalrat Islam Alijaj, für ihn sei das Internet lange Zeit das Tor zur Welt gewesen. Aufgrund einer Sprachbehinderung habe man ihn in seiner Kindheit zunächst für geistig weniger entwickelt gehalten und "in einer Sonderschule unterfordert". Ohne digitale Technologien hätte er sein Potenzial nie ausschöpfen können, gab sich der Politiker überzeugt. Was Alijaj sagte, wurde am ADC-Eröffnungsanlass jeweils Satz für Satz von einer Assistenzperson nachgesprochen. Einen Teil seiner Rede hielt aber auch eine KI-Stimme, die jener des Politikers nachempfunden war. Künftig, hofft er, könnte er mit dieser Stimme etwa seine Ansprachen im Parlament halten. Zudem wünschte er sich, künftig auch Sprachassistenten nutzen zu können. Aktuell seien die kommerziell verfügbaren Systeme nicht in der Lage, ihn zu verstehen.

Islam Alijaj steht zusammen mit der Assistenzperson hinter dem Rednerpult, daneben steht eine Frau, die in Gebärdensprache übersetzt, man sieht noch einige Leute im Publikum von hinten.

Islam Alijaj, Nationalrat. (Source: Petra Wolfensberger)

Bereits seit mehr als 15 Jahren entwickelt Julian Heeb die Plattform "Ginto", der "Zugänglichkeitsplattform zum Mitmachen", wie er sie beschreibt. Darauf können User detaillierte Angaben und Bewertungen zur Barrierefreiheit von Orten wie Hotels oder Restaurants hinterlegen. "Die Ansprüche an Barrierefreiheit sind individuell", erklärte Heeb. Selbst für Menschen im Rollstuhl könne etwa eine kleine Stufe manchmal ein unüberwindbares Hindernis, manchmal aber auch kein Problem darstellen. Darum sei es unbefriedigend, die Barrierefreiheit eines Ortes lediglich mit Ja oder Nein zu beantworten. Auf "Ginto" könne jeder User seine eigenen Bedürfnisse eingeben und erhalte dann die zum Profil passenden Orte angezeigt. Dagegen seien die Infos auf Google Maps noch zu wenig detailliert.

Individuelle Bedürfnisse stehen auch im Zentrum des Projekts Hackahealth, welches Luca Randazzo und Francois Kade vorstellten. Sie bringen an regelmässigen Hackathons Menschen mit Behinderungen, Produktentwickler und Ingenieurinnen zusammen mit dem Ziel, neue Lösungen zu entwickeln, um den Alltag zu erleichtern. Angerissene Ideen werden dann im Rahmen des "Living Lab" während mehreren Monaten weiter erforscht. Doch das Tüfteln an neuen Produkten sei nicht das Wichtigste, erklärten Randazzo und Kade. Mehr bedeuten ihnen die Begegnungen. "Produktentwickler treffen auf echte Menschen, die ihre Lösungen einsetzen". Zudem seien Menschen mit Behinderungen ermutigt, wenn sie mit ihrer Mitarbeit zu mehr Barrierefreiheit beitragen könnten. Als weiteren Gast stellten die beiden Referenten die per Videokonferenz zugeschaltete Accessibility Consultant Petra Ritter vor. Sie verwendete ein mit Hackahealth entwickeltes Text-to-Speech-Tool und regte an, dieses künftig ins Smartphone-Betriebssystem Android einzubauen.

Entdecken und entwickeln

Am Thema "Accessibility" interessierte Menschen - mit und ohne Behinderung – können sich ab sofort im ADC begegnen und austauschen, gemeinsam lernen und inklusive Lösungen sowie Produkte entwickeln, wie Google Schweiz schreibt. Es biete Platz für bis zu 25 Personen und stehe gemeinnützigen, akademischen und weiteren Organisationen auf Anfrage während den Bürozeiten zur Verfügung. Betrieben wird das ADC in Zürich von einem Team von 35 freiwilligen, wie Schilling im persönlichen Gespräch erklärt. "Man kann sich für Workshops und Touren mit Personen aus unserer Tech-Community anmelden", erklärt der Leiter und ergänzt, dass das Angebot kostenfrei sei. "Wir möchten, dass so viele Leute wie möglich reinkommen, um von- und miteinander zu lernen."

Schilling sitzt an einem grossen Tisch vor seinem Laptop und lächelt in die Kamera

Patrick Schilling, AI Customer Activation Manager & ADC Lead, Google Schweiz. (Source: Petra Wolfensberger)

Das Zentrum in Zürich ist bereits das dritte ADC von Google. Das erste eröffnete das Unternehmen vor eineinhalb Jahren in London. Bislang sei dieses von über 3000 Personen besucht worden, sagt Schilling.

Teil des ADC Zürich ist auch eine Auswahl verschiedener assistiver Technologien. Sie reichen von analogen Hilfsmitteln (wie einer Blindenschrift-Schreibschablone) über Smartphones mit eingeschalteter Live-Untertitelung bis hin zu barrierefreien Gaming-Konsolen, die frei ausprobiert werden können. Gefragt nach seiner Lieblings-Station nennt Schilling den "Tobii Eye Tracker", mit dem man das Rennspiel "Dirt 5" steuern kann. "Für viele Menschen mit körperlicher Behinderungen ist es nicht möglich, einen Controller zu nutzen. An dieser Station können sie das Game nur mit den Augen steuern", erklärt er. Einfach sei das nicht, fügt er hinzu. "Wir sind nicht im Ansatz an den Highscore herangekommen."

man sieht Schilling von hinten beim Spielen des Rennspiels Dirt 5

Patrick Schilling spielt das Rennspiel "Dirt 5". (Source: zVg)

Mehr als Hilfsmittel

Aufgebaut habe man das ADC in Absprache mit etwa 50 verschiedenen Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen mit dem Ziel, ihren Bedürfnissen zu entsprechen, betont Schilling. Dieses Vorgehen stösst auf Zustimmung. Viele der Anwesenden äusserten sich positiv über das ADC. Mehrfach war von einem "Wendepunkt" die Rede.

Nahaufnahme von Brian McGowan, er lächelt breit in die Kamera

Brian McGowan, Dozent für Disability Studies an der ETH Zürich. (Source: zVg)

Auch Brian McGowan, Dozent für Disability Studies an der ETH Zürich und weiteren Hochschulen und aktiv in den Bereichen Sensibilisierung und Barrierefreiheit, erlebte die Eröffnungsfeier als gelungen. Auf Anfrage hebt er die Wichtigkeit der Partizipation hervor, "also dass Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam an Lösungen im Bereich der Accessibility arbeiten müssen, wenn tatsächlich nachhaltige Schritte in Richtung Inklusion gelingen soll – und an diesem Center wurde im sprichwörtlichen Sinn ein Raum der Begegnung dafür geschaffen. Der User, also der Mensch mit Behinderungen und seine Bedürfnisse stehen im Zentrum der technologischen Forschung und Entwicklung – und dies in allen Phasen, bei der Problemdefinition, bei der Produktentwicklung und auch bei der Evaluation. Dies macht Mut, dass das ADC tatsächlich wichtige Beiträge zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen leisten kann."

Gleichzeitig weist McGowan auch darauf hin, dass sich der Schwerpunkt des ADC aus Sicht der Disability Studies noch erweitern liesse: "Viele der präsentierten Inhalte konzentrierten sich auf Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – um quasi den Menschen fitter zu machen, damit sich dieser in einer Welt (besser) behaupten kann, die von Menschen ohne Behinderungen erschaffen wurde. Man spricht in diesem Zusammenhang vom individuellen oder vom medizinischen Modell von Behinderung, in dessen Verständnis man den Menschen an die bestehenden Strukturen anpassen will. Eine Erweiterung würde ich mir in diesem Sinne wünschen, dass die grossen technologischen Möglichkeiten von Google neben der Produktion von individuellen Hilfsmitteln auch konsequent dahingehend genutzt werden, um unsere Strukturen, unsere Umwelt hindernisfreier für alle Menschen zu gestalten – unabhängig davon ob jemand eine Behinderung hat oder nicht." Weise die Umwelt weniger Hindernisse für Menschen mit Behinderungen auf, müssten sich diese mit weniger "be-Hinderungen" auseinandersetzen. "Wenn von Inklusion gesprochen wird, so würde ich mir also eine konsequente Ausrichtung sowohl auf individueller als auch auf strukturelle Ebene wünschen. Das Potenzial des ADC dafür ist riesig."

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VB2LuNmp