Editorial

Mehr Betriebssysteme für die Köpfe

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Joël Orizet, stellvertretender Chefredaktor. (Source: Netzmedien)
Joël Orizet, stellvertretender Chefredaktor. (Source: Netzmedien)

Schublade auf, Meinung rein, Schublade zu – niemand will sie haben, und doch schwirren sie in den meisten Köpfen herum. Vorurteile sind zwar nicht zwingend ein Problem. Ein Stück weit dienen sie dazu, Komplexität zu reduzieren und sich in einer unübersichtlichen Welt zu orientieren. Doch in der Konsequenz sind Vorurteile durchaus ­problematisch – insbesondere dann, wenn sie falsche Vorstellungen zementieren, soziale Unterschiede legitimieren und vor allem, wenn sie zu Diskriminierung und Ausgrenzung von Angehörigen bestimmter Gruppen führen.

Davon betroffen sind auch neurodivergente Menschen, also Menschen, deren Gehirne anders arbeiten als die meisten. In puncto Autismus, ADHS wie auch weiterer Formen von Neurodivergenz geistern in den Köpfen neurotypischer Menschen nach wie vor erschreckend viele Stereotypen herum. Viele davon speisen sich aus Geschichten aus der Bestseller-Literatur, aus den Medien und aus dem Fernsehen, die beispielsweise autistische Menschen oftmals so porträtieren, als wären sie hochbegabte Sonderlinge oder verhaltensgestörte Genies. Prägend war insbesondere das Bild, das der Film «Rain Man» (1988) abgab. Das Hollywood-Drama lenkte zwar Aufmerksamkeit auf das Thema Autismus, die Darstellung hat jedoch nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun.

Trotzdem kommt es häufig vor, dass man Menschen im autistischen Spektrum zweierlei Eigenschaften unterstellt: einerseits Defizite in der Sozialkompetenz und andererseits eine gewisse Superkraft. Vielleicht die Fähigkeit, Muster zu erkennen, mathematische Probleme zu lösen oder Fehler in Programmierzeilen zu entdecken. Das sind Klischees, die in manchen, aber längst nicht allen Fällen zutreffen, sich aber dennoch zu realitätsfernen Verallgemeinerungen verfestigen.

Damit kämpft auch Iris Gallmann, CEO von Auticon Schweiz. Das ­Sozialunternehmen mit Sitz in Zürich beschäftigt in der IT-Beratung ausschliesslich Menschen im Autismus-Spektrum. Gegenüber den Kunden stellt die Firma zwar stets das Nutzenversprechen der IT-Projektarbeit und die Spezialfähigkeiten ihrer Mitarbeitenden in den Vordergrund. Doch: «Sobald das Thema Neurodiversität zur Sprache kommt, müssen wir uns häufig darum bemühen, unausgesprochene Ängste zu bändigen», sagt die Geschäftsführerin im Interview ab ­Seite 24. Manchmal sei es schon schwierig, offen über das Thema zu sprechen, weil man sich in vielen Unternehmen angesichts der gesellschaftlichen Tragweite des Themas kaum traue, Einwände oder Vorbehalte vorzubringen – geschweige denn, Ängste anzusprechen oder «Nein» zu sagen.

Gerade in den IT-Abteilungen grosser Konzerne, die betont weltoffen auftreten und sich eifrig zu mehr Vielfalt bekennen, könnte man diesbezüglich mehr Aufgeschlossenheit erwarten. Denn die Software­entwicklung dürfte besonders von neurodiversen Teams profitieren. Es geht hier nämlich nicht nur darum, dass Diversität gut fürs Geschäft sein oder einem Gebot der Gerechtigkeit entsprechen soll – vielmehr sprechen funktionale und praktische Gründe dafür. Neurodiversität im Team kann zum Beispiel im User Experience Design helfen, denn je grösser die Varianz der Denkweisen im UX-Team, desto besser kann es die Gruppe der User abbilden. Und wer begreift, dass Formen von Neurodivergenz keine Systemfehler sind, sondern andere Betriebssysteme, erweitert nicht nur das Repertoire an kreativen Problemlösungsstrategien, sondern steigert auch die Chance, von Andersdenkenden zu lernen.

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