Iris Gallmann, Auticon Schweiz, im Interview

Wie Neurodiversität die Arbeitswelt bereichern kann

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Auticon Schweiz beschäftigt in der IT-Beratung ausschliesslich Menschen auf dem Autismus-Spektrum. Geschäftsführerin Iris Gallmann spricht über das Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen, über die Vorteile neurodiverser Teams sowie über die Vorurteile, denen sie begegnet.

Iris Gallmann, CEO von Auticon Schweiz. (Source: Netzmedien)
Iris Gallmann, CEO von Auticon Schweiz. (Source: Netzmedien)

Sie haben die Geschäftsführung von Auticon Schweiz im vergangenen September übernommen - nach Karrierestationen unter anderem bei Salesforce und Oracle. Was hat Sie an der Stelle gereizt?

Iris Gallmann: Ich habe mir schon seit Längerem etwas mehr Sinnhaftigkeit in der Arbeit gewünscht - etwas, bei dem ich Probleme lösen und gleichzeitig anderen Menschen dabei helfen kann, ihr volles Potenzial zu entfalten. Dieser Wunsch hat sich letztes Jahr verstärkt, als ich 40 geworden bin. Durch Zufall hat passenderweise ein Headhunter angerufen, um mir die CEO-Stelle bei Auticon Swiss anzubieten. Was mich besonders daran gereizt hat, ist diese Mischung aus unternehmerischer Verantwortung, die mit der CEO-Rolle verknüpft ist, und der sozialen Mission des Unternehmens, die darin besteht, die Inklusion neurodivergenter Menschen in der Arbeitswelt zu fördern.

Was haben Sie für einen Bezug zum Thema Neurodiversität?

Anfangs dachte ich noch, ich hätte keinen direkten Bezug dazu - aber ich täuschte mich. Weil ich ein neugieriger und einfühlsamer Mensch bin, wollte ich wissen, wie unsere Mitarbeitenden den Diagnoseprozess erleben. Deswegen unterzog ich mich einer diagnostischen Abklärung für Neurodiversität. Mit dem Ergebnis, dass ich mich interessanterweise selbst mit einer ADHS-Diagnose wiedergefunden habe.

Was hat diese Diagnose bei Ihnen ausgelöst?

Ehrlich gesagt, nicht allzu viel. Sie hat mir geholfen, einige meiner Denk- und Handlungsmuster besser zu verstehen. Zum Beispiel, warum mein Kopf ständig voller Ideen ist und ich Mühe habe, abzuschalten und nichts zu tun. Es kann sehr hilfreich sein, ein Verständnis dafür zu entwickeln, warum es einem schwerfällt, bestimmte Verhaltensweisen zu ändern. Alles in allem leide ich allerdings nicht unter meinem ADHS. Im Gegenteil: Ich liebe mein hohes Energielevel und meine Kreativität. Der ganze Prozess vermittelte mir jedoch ein erweitertes Verständnis und eine Wertschätzung für Menschen, die anders denken.

Was bedeutet es, auf dem Autismus-Spektrum zu sein? Wie muss man sich das vorstellen?

Zunächst einmal ist es wichtig zu betonen, dass es sich um ein Spektrum handelt. Es gibt unterschiedliche Schweregrade und viele verschiedene individuelle Ausprägungen. Die Antwort lässt sich also nicht generalisieren. Aus der Sicht von neurotypischen Menschen gibt es jedoch eine Reihe typischer Merkmale. Menschen auf dem Autismus-Spektrum nimmt man häufig so wahr, dass sie Schwierigkeiten mit der intuitiven Wahrnehmung von sozialen Situationen haben. Manchen fällt es vielleicht schwer, Emotionen anderer Menschen über nonverbale Kommunikation wie Mimik oder Körpersprache zu erkennen. Andere reagieren besonders sensibel auf Reize - zum Beispiel auf Licht, Geräusche oder Gerüche. Es gibt viele autistische Menschen mit überdurchschnittlichen analytischen Fähigkeiten. Viele sind beispielsweise in der Lage, sich hyperfokussiert und äusserst gründlich mit bestimmten Problemen zu befassen. Andere haben eine ausgeprägte Beobachtungsgabe, ein hervorragendes Langzeitgedächtnis oder ein Talent für vernetztes Denken. Was die meisten neurodivergenten Menschen gemeinsam haben, ist eine sehr direkte Art des Kommunizierens. Das schätze ich sehr, da Probleme und Verbesserungen direkt zur Sprache kommen und man sich auf Lösungen fokussieren kann.

Autismus-Spektrum-Störungen und ADHS sind Formen von Neurodivergenz. Was heisst das genau?

Neurodivergenz ist ein Oberbegriff für verschiedene neurobiologische Besonderheiten. Darunter fallen Diagnosen wie Autismus, ADHS, Dyslexie, Dyskalkulie und Hochsensibilität. Der Begriff bringt zum Ausdruck, dass das Gehirn einer betroffenen Person auf eine andere Art und Weise funktioniert und Informationen verarbeitet, als dies bei der Mehrheit der Menschen der Fall ist. Besonders wichtig scheint mir allerdings, dass man diese wie auch weitere neuronale Ausprägungen nicht per se als Krankheiten oder Entwicklungsstörungen betrachtet, sondern als Veranlagungen respektive Dispositionen unter anderen. So gesehen ist Neurodiversität, also die Vielfalt von neurologischen Ausprägungen in ihrer Gesamtheit, eine Bereicherung für Wirtschaft und Gesellschaft.

Diese Botschaft ist jedoch längst nicht überall angekommen. Welchen Vorurteilen begegnen neurodivergente Menschen auf dem Arbeitsmarkt?

Viele Menschen nehmen Neurodivergenz pauschal als Behinderung wahr, was jedoch ein Irrtum ist. Die meisten Stereotypen beruhen auf falschen Vorstellungen, die auf Fernseh- und Filmfiguren basieren, wobei es diesbezüglich einen Generationengraben gibt. Mir ist es lieber, wenn - wie es in den jüngeren Altersgruppen der Fall ist - die Leute beim Stichwort Autismus eher an Sheldon Cooper denken, den Publikumsliebling aus der Sitcom "The Big Bang Theory" oder an Saga Noren aus der Krimiserie "The Bridge", als an den Film "Rain Man".

Warum?

"Rain Man" bedient das Klischee, wonach autistische Menschen eine sogenannte Inselbegabung haben, also zum Beispiel ausserordentlich gut mit Zahlen umgehen können, aber ansonsten tollpatschig, unbeholfen, leicht reizbar und enorm auf Hilfe angewiesen sind. Bei "The Big Bang Theory" oder "The Bridge" hingegen wird das Thema Neurodivergenz, auch wenn es nicht explizit thematisiert wird, weniger pathologisiert. Die Protagonisten haben zwar manchmal Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Angelegenheiten, können aber trotzdem ein erfülltes soziales Leben führen. Der springende Punkt ist jedoch ein anderer: Autistische Menschen fühlen sich in neurotypischen Kreisen häufig deplatziert oder andersartig - und als Zuschauerin dieser Serien gewinne ich den Eindruck, dass dieses Andersartige keine Schwäche ist, sondern durchaus auch eine Stärke sein kann. Leider setzt sich diese Haltung jedoch nur langsam durch. In vielen Köpfen herrschen nach wie vor negativ behaftete Vorurteile gegenüber neurodivergenten Menschen.

Wie gestaltet sich das in der Kundenakquise?

Manchmal ist es schwierig, offen darüber zu diskutieren. Denn in vielen Unternehmen traut man sich angesichts der gesellschaftlichen Tragweite des Themas kaum, Einwände oder Vorbehalte vorzubringen - geschweige denn, Ängste anzusprechen oder "Nein" zu sagen. Stattdessen kommt es auch mal vor, dass man uns einfach lange hinhält, also weder zu- noch absagt.

Woran liegt das wohl?

Vermutlich haben viele Leute Angst, im Kontext der Bemühungen um Corporate Social Responsibility in eine Moralfalle zu tappen oder etwas zu sagen, das man als falsch erachten könnte. Deswegen versuchen wir, das Thema proaktiv anzusprechen und Hemmungen abzubauen. Das tun wir im persönlichen Gespräch und neuerdings auch auf Linkedin. Dort veröffentlichen wir kurze Interviews mit unseren IT-Consultants, in denen sie über ihre persönliche Sichtweise auf das Thema Neurodiversität wie auch über ihren Arbeitsalltag sprechen. Das kommt bei unserer Kundschaft sehr gut an.

Auticon positioniert sich in einem Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielsetzungen. Wie gehen Sie damit um?

Es ist ein Spagat, der nicht immer gelingt, auch wenn wir das Nutzenversprechen der IT-Projektarbeit in den Vordergrund stellen. Sobald das Thema Neurodiversität zur Sprache kommt, müssen wir uns häufig darum bemühen, unausgesprochene Ängste zu bändigen. Und manchmal stösst man auch auf Social Washing, also auf nur vorgebliche Bemühungen um soziales Engagement, bei denen es jedoch tatsächlich um Imagepflege geht.

Wie reagieren Sie auf solche Zielkonflikte?

So offen und ehrlich wie möglich. Spannungen ergeben sich meiner Ansicht nach vor allem dann, wenn sich die mangelnde Awareness bemerkbar macht. Gefragt ist in solchen Fällen nicht bloss Information, sondern eine Einladung, sich über das Thema zu verständigen. Dies mit dem Ziel, Missverständnisse auszuräumen und Awareness zu fördern. Das scheint mir enorm wichtig, denn bezüglich der Sensibilisierung für Neurodiversität hinkt die Schweiz anderen Ländern weit hinterher.

Die IT-Consultants, die bei Ihnen arbeiten, sind auf bestimmte Aufgaben spezialisiert. Was sind das für Spezialgebiete?

Wir haben kürzlich unsere Geschäftsbereiche neu gegliedert, um die Talente unserer Mitarbeitenden besser hervorzuheben. Im ersten Bereich geht es um Data Analytics und Data Science, also beispielsweise darum, grosse und teils unstrukturierte Datenmengen zu analysieren, Muster zu erkennen und daraus geschäftskritische Einsichten zu gewinnen. Im zweiten Bereich, den wir DevOps nennen, geht es vielfach um Legacy Support, also zum Beispiel um die Modernisierung von Mainframe-Lösungen oder um die Migrationen von alten Umgebungen. Dies erfordert zum Teil minutiöse Detektivarbeit, weil vielleicht Dokumentationen fehlen oder unvollständig sind. Und der dritte Bereich dreht sich, grob gesagt, um Digitalisierung und Prozessautomatisierung. Hier ist insbesondere die Fähigkeit gefragt, sozusagen um die Ecke zu denken, sprich: kreative Lösungen zu finden. Gerade in brandaktuellen Themen wie KI beziehungsweise Machine Learning etc. können unsere Mitarbeitenden einen wichtigen Teil zu einem Kundenprojekt beitragen, da sie sehr vernetzt denken können und verschiedene Optionen von Anfang an kritisch evaluieren. In allen Bereichen wollen wir bestimmte Problemfelder in der IT adressieren und gleichzeitig die Stärken des neurodivergenten Denkens fördern.

Heisst das, Sie engagieren nur Menschen mit hochfunktionalem Autismus oder solche mit einer Hochbegabung? 

Nein. Allerdings gibt es für eine Anstellung durchaus bestimmte Voraussetzungen, denn wir haben als Sozialunternehmen in erster Linie eine unternehmerische Mission zu erfüllen. Das heisst, wir wollen beweisen, dass wir als Firma profitabel sein können - und zwar nicht trotz, sondern dank unseren neurodivergenten Mitarbeitenden. Es gilt also, der Gesellschaft zu zeigen, dass Neurodiversität einen Wert hat und darüber hinaus auch einen Mehrwert bietet. Abgesehen vom autistischen Denken achten wir bei der Anstellung auch sehr auf ein gutes Wertesystem und darauf, zu verstehen, was die Mitarbeitenden motiviert.

Es geht Ihnen also nicht um Wohltätigkeit, sondern ums Geschäft.

Es geht um ein Geschäft mit gesellschaftlicher Wirkung und Relevanz. Wir betrachten unsere Mission nicht als Charity, sondern als soziales Unternehmertum. Das bedeutet, wir verfolgen einen ökonomischen Zweck und wollen aus eigener Kraft, also ohne Spenden- oder Steuergelder, positive Veränderungen bewirken. Kürzlich konnten wir übrigens Nationalrat Nik Gugger, der sich sehr für Social Entrepreneurship in der Schweiz einsetzt, als Ambassador für Auticon Schweiz gewinnen. Über dieses Engagement freuen wir uns sehr und ich konnte persönlich bereits sehr viel von ihm lernen.

Was muss man mitbringen, um als IT-Consultant bei Auticon zu arbeiten? 

Grundbedingung ist, abgesehen vom IT-Background, eine Autismus-Diagnose, weil das zu unserer Mission gehört. Ausserdem haben wir Voraussetzungen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind, zum Beispiel Motivation, eine gewisse Eigenverantwortung, Entwicklungs- und Lernbereitschaft, Offenheit für Feedback und vielleicht auch Neugier. Ich sage immer, dass jemand können und wollen muss. Vieles andere kann man lernen.

Wie sieht ein ideales Arbeitsumfeld für neurodiverse Teams aus?

Wichtig ist vor allem, für psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz zu sorgen. Es braucht eine angstfreie Atmosphäre, in der sich die Mitarbeitenden trauen, alle möglichen Fragen zu stellen und etwaige Probleme anzusprechen. Dazu gehören eine Feedback-Kultur und Offenheit im Umgang mit Emotionen. Grundsätzlich wäre es wünschenswert, wenn sich mehr Unternehmen um ein integratives Arbeitsumfeld bemühen würden - auch, aber nicht nur im Hinblick auf Neurodiversität. Denn was einer neurodivergenten Person im Unternehmen gut tut, kommt allen Mitarbeitenden zugute.

 


Zur Person: Iris Gallmann ist seit September 2023 CEO von Auticon Schweiz. Zuvor war sie für Salesforce tätig, wo sie als Regional Sales Director ein Verkaufsteam leitete. Wiederum davor hatte sie in den Bereichen Sales und Marketing bei Autodesk und Oracle gearbeitet. Iris Gallmann hat einen Bachelor of Science der Technology University Dublin, einen HF Abschluss als Business Analyst und macht derzeit einen Master of Business Administration an der University of Liverpool. Sie hat mehrere Jahre in Irland, Schweden und Dänemark gelebt und gearbeitet, wo sie viel über verschiedene Denkweisen und Kulturen gelernt hat.

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