Glauben Sie dem Roboter: Bei Bagels dürfen Sie weghören
Es ist ein Evergreen im Leben eines blinden Menschen, sehenden gegenüber seine Fähigkeiten zu erklären. Dass ich, wie viele Personen ohne Behinderung, Küchenarbeiten verrichte, ohne dabei andauernd schreckliche Unfälle oder zumindest eine riesige Sauerei zu verursachen, können sich manche nicht vorstellen.
Natürlich ist es so, dass ich mich in der Küche manchmal schneide oder etwas verschütte. Das passiert aber vergleichsweise selten und hat weniger mit meiner Blindheit zu tun als mit meiner Neigung zu gelegentlicher Tollpatschigkeit. Auch Sie haben sich schon in der Küche verbrannt, oder? Im Allgemeinen funktioniert das Kochen ohne Augen richtig gut. Während der Arbeit in der Küche profitiere ich von einer Menge nicht-visueller Sinneswahrnehmungen: Ich höre auf das Brutzeln und Plätschern, fühle Temperaturen, rieche die gebratenen Produkte in der Pfanne …
Vor ein paar Jahren unterhielt ich mich mit einem angehenden (sehenden) Koch. Auf die Frage, auf welchen Sinn er bei seiner Arbeit am ehesten verzichten könnte, nannte er ohne Umschweife den Sehsinn. Die wichtigen Infos, so seine These, könne er mit allen anderen Sinnen ausreichend und sogar besser abdecken als mit den Augen.
Die Aussage mag vielleicht etwas zugespitzt sein. Aber sie bestätigt meine Empfindung. Ich verbringe relativ wenig Zeit damit, meinen Sehsinn zu vermissen. Die anderen Sinne kompensieren die Augen nicht nur, sondern eignen sich manchmal auch besser für bestimmte Aufgaben.
Am besten ist es freilich, mehrere Sinne zu kombinieren. Das lohnt sich nicht nur für Menschen, sondern scheinbar auch für Roboter, wie der Preprint einer Studie der Stanford University zeigt. Die Forschenden hinter der Studie trainierten Haushaltsroboter mit Videos – die einen waren stummgeschaltet, die anderen verfügten über eine Audiospur. Der Befund des Forscherteams: Die Roboter konnten manche Aufgaben schneller und genauer replizieren, wenn sie nicht nur Bild-, sondern auch Audiodaten zur Verfügung hatten. Bei der Aufgabe, Würfel von einem Becher in einen anderen umzufüllen, stieg die Erfolgsquote etwa von 27 auf 94 Prozent, wenn die Maschinen nicht nur hinsehen, sondern auch zuhören konnten.
Die Studie zeigte aber auch, dass sich das Hinhören nicht immer lohnt. Ausgerechnet in der Küche, beim Umdrehen eines Bagels nämlich, nützte den Maschinen die akustische Zusatzinformation nichts. Sie konnten also nicht zuverlässiger erkennen, ob ihr "Wendemanöver" geglückt war.
Die Lektion, welche die Forschenden aus ihren Experimenten zogen, gilt auch für Menschen: Hinhören lohnt sich – aber nur in bestimmten Fällen. Bei Bagels können Sie offenbar getrost weghören.
Mein Vorschlag für ein Folgeexperiment wäre übrigens, den Robotern den Tastsinn beizubringen. Denn wenn ich etwas im Topf wende, überprüfe ich tastend, ob es mir geglückt ist. Probieren Sie es gern aus! Nehmen Sie dafür eine Holzkelle oder Ihre Finger. In letzterem Fall gilt jedoch: Vorsicht! Tippen Sie das Kochgut nur ganz kurz an! Sonst verbrennen Sie sich nämlich die Finger – und das wünsche ich Ihnen auf keinen Fall für die Festtage.
Diese Printausgabe der "Netzwoche" ist die letzte in diesem Jahr. In gedruckter Form lesen Sie uns wieder am 29. Januar 2025. In der Zwischenzeit versorgt Sie die Netzmedien-Online-Redaktion mit den wichtigsten und spannendsten News und Hintergründen der ICT-Branche.