Interview

"Es ist unser Anspruch, die Persönlichkeit von Autisten zu fördern"

Uhr | Aktualisiert
von Janine Aegerter

Specialisterne Schweiz ist ein IT-Dienstleister mit einem besonderen Merkmal: Das Unternehmen beschäftigt Menschen mit Autismus. Was dies bedeutet, erklärt Thomas van der Stad, General Manager von Specialisterne Schweiz, im Interview.

Thomas van der Stad, General Manager von Specialisterne Schweiz. (Quelle: Specialisterne)
Thomas van der Stad, General Manager von Specialisterne Schweiz. (Quelle: Specialisterne)

Herr van der Stad, Sie arbeiten mit Specialisterne am Aufbau eines IT-Unternehmens mit Autisten als Arbeitnehmern. Fühlen Sie sich in der Branche damit nicht als Exot? 

Wie Sie richtig sagen, sind wir ein noch sehr junges Unternehmen und erst dabei, unseren IT-Bereich auszubauen. Aber das Interesse ist da, Menschen mit besonderen Potenzialen für IT-Aufgaben einzusetzen. Denn die Projekte, die wir mit unseren Kunden besprechen, sind nicht unbedingt favorisierte Themenfelder für Mitarbeiter anderer IT-Unternehmen.

Welche besonderen Fähigkeiten bringen denn Menschen mit Autismus mit?

Unser Slogan «Passion for details» bringt das gut auf den Punkt. Menschen mit Autismus haben die Fähigkeit, sich auf Details zu fokussieren. Das ist ein ganz klarer Vorteil. Wenn das Interesse für ein Gebiet da ist, entwickeln sie eine starke Kontinuität und können sich total in eine Aufgabenstellung vertiefen. Das ist auch der Fall, wenn es sich dabei um repetitive Arbeiten handelt. Es wäre aber falsch, wenn man nur repetitive Arbeiten als Grundlage für unsere Firmenpolitik ansehen würde. Wir haben beispielsweise unter den Auszubildenden, die wir ab August beschäftigen, einen genialen Systemtechniker, einen Programmierer sowie weitere qualifizierte Informatiker. Intern nennen wir diese Auszubildenden übrigens Assessment-Teilnehmer.

Sie bilden Informatiker aus?

Ja, wir bieten ab August drei Ausbildungsplätze für Informatiker Fachrichtung Applikationsentwicklung mit Eidgenössischem Fachausweis an. Wobei zwei der Auszubildenden bereits ins zweite Ausbildungsjahr einsteigen. Sie haben vorher in anderen Informatikbetrieben gearbeitet und ihre Ausbildung zum Teil abgebrochen. Ab August bieten wir zudem für Menschen mit Asperger-Syndrom in externen Informatikfirmen spezifische Dienstleistungen an. Zum Beispiel können Auszubildende überbetriebliche Kurse der Berufsschule auch bei uns in kleineren Klassen absolvieren. Das Asperger-Syndrom ist übrigens eine leichte Form des Autismus.

Was ist das Besondere an der Arbeit mit Autisten?

Wir schauen mit jedem Mitarbeiter individuell an, was er braucht, damit er seine Leistung auch entsprechend abrufen kann. Manche unserer Räume sind abgedunkelt, weil die Mitarbeiter, die dort arbeiten, kein helles Licht ertragen. Zudem müssen wir auch darauf achten, dass nicht zu viel Hektik entsteht. Wir haben derzeit etwa 200 Quadratmeter Fläche, also eher kleine Räumlichkeiten verglichen mit der Menge an Mitarbeitern. Dadurch ist auch viel Lebendigkeit da. Manchen Mitarbeitern ist das schon zu viel. Es ist auch wichtig, dass man sich ihnen nicht von hinten nähert, sondern ihnen primär von vorne gegenübertritt. Manche brauchen einen klar strukturierten Arbeitsplatz, andere einen eher chaotischen, das ist spannend und herausfordernd zugleich.

Können Autisten überhaupt im Team arbeiten?

Ja, das können sie schon, aber einfach im kleinen Rahmen, nicht zusammen mit vielen Menschen. Kindergärtner, Lehrer oder vergleichbare Tätigkeiten sind nicht von Aspergern priorisierte Berufe.

Mit welchen Dienstleistungen wollen Sie sich in der IT positionieren?

Wir möchten vor allem im Software-Testing tätig werden, da sich solche Tätigkeiten für Asperger eben sehr gut eignen. Wir wollen zunächst nicht in erster Linie eigenständig Produkte entwerfen oder entwickeln, sondern suchen die Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern. Wir möchten auch in der Webprogrammierung aktiv werden und uns dort positionieren. Im Backoffice sind wir heute schon stark tätig. Wir orientieren uns an unseren Kunden und versuchen mit ihnen zusammen in den genannten Schwerpunkten die angestrebten Dienstleistungen zu entwickeln.

Ist der Markt für Software-Testing denn gross genug?

Ja, es gibt da viel Bedarf, insbesondere in Gebieten, in denen Sprach- und Schweizer Marktkenntnisse gefordert sind. Hier kann nicht immer auf ausländisches Testpersonal zurückgegriffen werden. Es braucht Fachleute, aber nicht unbedingt komplett ausgebildete Informatiker. Teilweise reicht auch ein Zertifikat als Softwaretester, was uns entgegenkommt. Denn es gibt Autisten oder Asperger, die keine Ausbildung haben, sondern sich autodidaktisch weitergebildet haben. In diesem Fall ist es sinnvoll, wenn diese Menschen nicht noch eine Ausbildung machen müssen, sondern über Zertifikate in den Arbeitsmarkt eintreten können. Beim Software-Testing braucht man eher spezifisches Wissen, das geschult werden kann. Das kommt den Fähigkeiten, die Autisten mitbringen, sehr entgegen.

Wie sieht es mit der Softwareentwicklung aus? Könnten Sie da auch Dienstleistungen anbieten?

Das wäre ein spannender Markt, ja. Wenn wir eine konkrete Anfrage eines Unternehmens hätten, das in der Softwareentwicklung tätig ist, und der Auftrag für uns machbar wäre, dann ja. Derzeit verfügen wir aber nicht über die nötige Infrastruktur, auch nicht über die finanzielle Basis. Das ist eher ein Langzeitprojekt. Beim Programmieren von Websites kann man dem Kunden schneller etwas präsentieren und sehen, was möglich ist und was nicht. Das ist mittelfristig realistischer.

Planen Sie auch Bodyleasing?

Nicht direkt, nein. Eher im Sinne eines Mandats für ein bestimmtes Projekt, das zeitlich beschränkt ist. Autisten benötigen ja auch eine bestimmte Struktur, und wenn ich Bodyleasing anbiete, dann kann ich nicht den im erforderlichen Masse wichtigen Support in den autismusspezifischen Fragestellungen anbieten. Wir akquirieren unter anderem auch Inhouse-Projekte, also Kundenaufträge, die wir bei uns vor Ort bearbeiten können.

Sind Sie günstiger oder teurer als andere IT-Dienstleister?

Wir bewegen uns im Preissegment, das am Markt üblich ist. Letztlich sind wir weder günstiger noch teurer. Wir wollen gute Arbeit leisten, und die soll auch honoriert werden.

Welche Aufträge führen Sie derzeit aus?

Im Backoffice haben wir für dieses Jahr fünf bis sechs Kunden im Umsatzbereich von etwa 150 000 Franken. Das ist nicht die Welt, aber es ist einfach mal ein Standbein. In Kooperation mit einem Netzwerkpartner haben wir zudem die Anfrage erhalten, den gesamten IT-Bereich einer Organisation mit 200 Mitarbeitern neu aufzustellen und den Betrieb und Support zu gewährleisten. Wir sind auch im Gespräch mit vier grossen Versicherungen, Banken und Dienstleistern im Bereich Datenmanagement und Software-Testing. Weitere Aufträge im Bereich Webprogrammierung, Datenlogistik und Datenbankmanagement runden das Businessportfolio ab.

Sie haben vor ein paar Jahren gegenüber einem Journalisten gesagt, Sie könnten sich vorstellen, in Zukunft 200 bis 300 Menschen zu beschäftigen. Sind diese Pläne immer noch aktuell?

Insgesamt waren wir, das heisst der Verwaltungsrat von Specialisterne, damals zu euphorisch und wollten zu schnell wachsen. Wir hatten viele Pläne, hatten aber zu wenige Kunden akquiriert. Das ging so weit, dass wir im Frühling 2011 nicht einmal mehr sicher waren, ob wir überhaupt eine Zukunft haben würden. Damals hat sich dann aber glücklicherweise abgezeichnet, dass wir mit unserem Angebot, dem Assessment-Verfahren, in der beruflichen Abklärung einen Nerv treffen. Also haben wir unseren Verwaltungsrat redimensioniert und Specialisterne von Autismuslink rechtlich und finanziell entkoppelt. So war dann auch gegen aussen klar, dass es sich zwar um eine enge Zusammenarbeit handelt, aber Autismuslink nun nicht mehr Aktieninhaber ist. Das machte für uns auch den Weg frei, damit wir Gespräche mit möglichen Investoren führen konnten.

Was haben Sie aus dieser Situation gelernt?

Wir wissen inzwischen, dass wir uns nur in kleinen Schritten entwickeln können. Zudem wollen wir nicht ein System aufbauen und dann hoffen, dass die Kunden kommen. Diesen Ansatz haben wir vorher verfolgt. Jetzt bauen wir auf unsere Kundenaufträge, die wir akquirieren, sowie auf unsere Kooperationspartner, die schon über langjähriges professionelles Know-how verfügen und uns aktiv unterstützen.

Wie viele Mitarbeiter beschäftigen Sie momentan?

Neben mir und den drei Auszubildenden, die im August zu uns stossen, haben wir 240 Stellenprozente im Backoffice und 120 Stellenprozente im IT-Bereich.

Haben Sie sich inzwischen mit einem Investor einigen können?

Ja, wir haben ein bis zwei Investoren gefunden, die ab Herbst einsteigen möchten. Wer das ist, kann ich aber zurzeit noch nicht sagen. Sobald diese Zusammenarbeit läuft, werden wir zusätzliche neue Stellen für einen IT-Leiter im Trainee-Bereich und einen Business Unit Manager im Sales Bereich besetzen. Diese Stellen sind aktuell ausgeschrieben. Unser Ziel ist, dass wir in fünf Jahren etwa 50 Mitarbeiter haben. Diese werden nicht alle zu hundert Prozent arbeiten. Ich nehme an, dass wir nächstes Jahr bei 10 bis 20 Mitarbeitern sein werden, in drei Jahren vielleicht bei 30. Das hängt dann auch von unseren Kunden ab.

Wie blicken Sie derzeit in die Zukunft?

Ich bin überzeugt, dass wir weitere Partnerschaften abschliessen und unsere professionelle Arbeit weiter konstruktiv im Dialog mit unseren Kunden aufbauen können.

Kürzlich hat ja auch SAP eine Zusammenarbeit mit Specialisterne angekündigt. Worum geht es da genau?

Diese Zusammenarbeit lief bisher vor allem in Deutschland. SAP will ein Prozent der Mitarbeiterschaft bis 2020 aus dem Autisten-Spektrum rekrutieren. SAP hat weltweit rund 65 000 Mitarbeiter, das wären also 650 Personen. Zwischen SAP Schweiz und Specialisterne Schweiz haben bisher noch keine Gespräche stattgefunden, das ist aber geplant. Ob sich daraus eine Zusammenarbeit ergibt und wie diese aussehen wird, wird sich in Gesprächen mit der Geschäftsleitung von SAP Schweiz zeigen. Aber ich gehe eigentlich schon davon aus, dass es dazu kommt.

Sie haben die eher kleinen Räumlichkeiten erwähnt. Wollen Sie den Standort wechseln?

Wir können uns vorstellen, uns auch im Raum Zürich zu positionieren und damit den Standort in Bern zu ergänzen. Klar ist, dass wir bei den Kunden schon jetzt mehr Ansprechpartner aus Zürich als aus Bern haben. Allenfalls kommt später auch noch Basel ins Spiel oder die Westschweiz.

Wie finanzieren Sie sich zurzeit?

Den Aufbau unseres Unternehmens haben wir durch Spendengelder finanziert, also Stiftungen, die uns unterstützt haben. Jetzt, da wir im Mandat mit der Stiftung Autismuslink als Kooperationspartner zusammenarbeiten, werden wir für unsere Dienstleistungen im IT- und KV-Bereich entschädigt. Unsere Mandate im Backoffice sind ebenfalls eine Einnahmequelle, wobei sich das momentan noch mehr auf den KV- als den IT-Bereich konzentriert. Dazu kommen Beiträge aus privater Hand. Die Kundenakquise führen wir seit gut einem Quartal konsequent durch und wir gehen davon aus, dass wir im zweiten Halbjahr dieses Jahres einen nennenswerten Umsatz erzielen werden.

Gibt es andere Unternehmen, die ähnliche Dienstleistungen wie Specialisterne anbieten?

Die Synergien, die wir durch die Kooperation mit der Stiftung Autismuslink nutzen können, sind schweizweit einzigartig. Es gibt noch die Asperger-Informatik in Stäfa, die von einer Aspergerin geführt wird. Die haben etwa sieben Mitarbeiter. Dann gibt es noch die Stiftung Informatik für Autisten, die Ausbildungen für Informatikpraktiker anbietet. Das ist aber eher eine Lehrwerkstätte, kein eigentlicher Betrieb.

Und was ist das Motto von Specialisterne?

Wir wollen uns auf die Fähigkeiten der Menschen konzentrieren. Specialisterne soll nicht dafür stehen, dass wir Autisten beschäftigen. Vielmehr möchten wir uns im Diversity Management positionieren und die Vielfalt nutzen, die uns zur Verfügung steht. Es ist unser Anspruch, die Persönlichkeit von Autisten zu fördern und ihnen zu helfen, ihren Platz in der Welt zu finden. Es geht darum, dem Menschen zu helfen, seine eigenen Kräfte zu stärken, damit er diese dann einsetzen kann. Kurzfristig müssen wir relativ viel investieren, um die Gesellschaft langfristig zu entlasten.