Interview mit François Flückiger

"Internetnutzer sollten mehr Ideen teilen und weniger über sich selbst reden"

Uhr | Aktualisiert
von Marcel Urech

Kaum jemand kennt das World Wide Web so gut wie François Flückiger. Er ist Mitglied der Internet Hall of Fame und übernahm nach dem Abgang von Tim Berners-Lee das Web-Team des Cern. Im Interview spricht Flückiger über Chancen und Gefahren des WWW.

Das Cern ist der Geburtsort des World Wide Web. Das Forschungszentrum stellte vor 25 Jahren die erste Website online. Konnten Sie damals erahnen, was das alles auslösen würde?

Zuerst einmal nicht. 1993 änderte sich das schlagartig. Einige meiner Kollegen und ich sahen beim Cern den ersten Webbrowser mit einer grafischen Bedieneroberfläche. In diesem Moment wurde mir klar, dass das Web die Welt erobern wird. Wer damals die Website des Cerns besuchte, konnte allerdings noch nicht mit Klicks navigieren. Um einem Link zu folgen, musste der Nutzer eine Zahl auf seiner Tastatur eintippen.

Mit welchen Prognosen lagen Sie richtig?

1995 sagte ich in einem Lehrbuch für Studenten fast alle modernen Anwendungen des Webs voraus. Etwa E-Commerce, Internetbanken und elektronische Finanzlösungen. Auch Video-Conferencing und Multimedia-Apps wie TV oder Videoserver prophezeite ich. Persönliche Websites, Online-Enzyklopädien und Online-Administration sah ich ebenfalls kommen.

Und wo lagen Sie falsch?

Ich schrieb damals, dass 100 Millionen Menschen die Olympischen Sommerspiele 2000 im Web schauen würden. Das trat nicht ein. Auch die Suchtechnologien von Google erwartete ich so nicht. Sie sind unglaublich schnell und effizient. Wer sucht, erhält in einem Bruchteil von Sekunden Ergebnisse. Keiner der Technologen, die ich damals kannte, hielt das für möglich. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass soziale Netzwerke jemals eine solche Bedeutung erlangen. Und schon gar nicht, wie stark sie das Leben von Jugendlichen heute beeinflussen.

Was ist die wichtigste Veränderung, die das Web in unserer Gesellschaft auslöste?

Das Web zeigte den Menschen, dass sie Informationen nicht bloss konsumieren, sondern auch erstellen und teilen können. Das Gleiche gilt für Wissensinhalte. Ich wünschte mir, dass die Internetnutzer ihnen mehr Beachtung schenken.

Plante das Cern das World Wide Web von Anfang an als Mitmach-System?

Ja, das wissen viele nicht. Wer mit dem ersten Webbrowser des Cern unseren Internetauftritt besuchte, konnte nicht nur lesen, sondern auch editieren. In kommerziellen Browsern gab es diese Funktion lange nicht. Sie kam erst zehn Jahre später – in Form von sozialen Netzwerken. Wir hofften damals auf viele Inhalte von Nutzern. Sie konnten Informationen oder im Idealfall gar Wissensinhalte verbreiten. Heute findet die Produktion dieser Inhalte meist auf sozialen Netzwerken statt. Menschen nutzen diese, um zu zeigen, was sie tun und wer sie sind. Die Nutzer von Social Media sprechen leider fast nur über sich selbst. Das ist schade.

Das Web hat grossartige Dinge hervorgebracht. Wo erfüllt es sein Potenzial nicht?

Für mich ist es weniger eine Frage des unerfüllten Potenzials als der verpassten Gelegenheiten. Viele erkennen die Chancen nicht, die das WWW bringt. Meine Träume sind nicht wahr geworden. Ich wünschte mir, dass Menschen im Web mehr Ideen austauschen und weniger über sich selbst reden. 1995 warnte ich davor, dass die Personalisierung des Webs dazu führen kann, dass sich die Menschen für immer weniger Dinge interessieren. Und ich gab auch zu bedenken, dass es gefährlich ist, wenn das Web den Zugang zu Kultur und Medien stark personalisiert und filtert. Leider ist nun genau das eingetreten.

Was würde in Ihrer persönlichen Magna Carta für das Web stehen?

Eine Magna Carta beschränkt die Macht von Königen und schützt die Rechte von Individuen. Ich kann diese Idee nicht ganz auf das WWW abbilden. Das ideale Web ist zugänglich für alle. Es schliesst niemanden aus, und alle können alle Funktionen nutzen. Die Technologien des Webs müssen offen sein, sodass sie alle verstehen können. Im Idealfall macht das WWW auch weniger süchtig. Das ist heute das grösste Problem des Internets überhaupt.

Unternehmen wie Google und Facebook scheffeln heute Milliarden mit dem Internet. Dachten Sie vor 25 Jahren, dass so etwas je möglich sein wird?

Nicht in diesem Ausmass. Webgiganten wie Google, Facebook und Amazon haben aber aus unterschiedlichen Gründen Erfolg. Google etwa kombiniert gewaltige Rechenleistung mit Technologien, die einzigartig und disruptiv sind. Googles Suchalgorithmen sind ein Meilenstein des Internets, vergleichbar mit dem IP-Protokoll und dem WWW. Keiner der Forscher, die ich damals kannte, hielt eine Suche wie die von Google für möglich. Dass aus der Kombination von Suchalgorithmen und Rechenpower einmal Apps wie Google Earth oder Street View entstehen würden, sagte keiner meiner Forschungskollegen voraus.

Wie wichtig waren Facebook und Amazon für das Web?

Ausser Google steuerte keiner der grossen Player Bahnbrechendes zum Internet bei. Facebook und Amazon nahmen Ideen, die bereits existierten, und verbesserten diese kontinuierlich. Sie profitierten von Netzwerkeffekten. Wenn eine Firma einmal auf 80 Prozent Marktanteil kommt, ist sie fast unantastbar. Ich sage „fast“, da einige IT-Riesen ja auch plötzlich kollabierten.

Haben Sie eigentlich eine Lieblings-Website?

Ja, Wikipedia. Ich hoffe, dass das Onlinelexikon immer frei bleibt. Und damit meine ich nicht nur kostenlos. Wikipedia muss für alle zuglänglich und frei von Werbung sein.

Wie beeinflusste die Mobile-Revolution das WWW?

Sie führte dazu, dass Funktionalitäten des Webs in Apps abwanderten. Das ist problematisch, da Smartphone-Apps auf proprietären Technologien beruhen. Märkte werden so fragmentiert, und anstatt ein offenes Web gibt es eine Vielfalt von Applikationen und Interfaces. Nutzer von Desktop-Computern verwenden hingegen meist noch offene Webtechnologien. Auch auf PCs werden Apps aber immer beliebter. Das universale, offene WWW ist damit bedroht.

Was für ein Web wollen Sie in 25 Jahren sehen?

Das eine würde ich gerne sehen, das andere fürchte ich. Wissensdatenbanken wie Wikipedia müssen auf jeden Fall frei zugänglich bleiben. Ganz besonders für Menschen, für die eine Zutrittsgebühr ein Hindernis darstellen würde. Das Internet muss möglichst offen sein.

Webcode
5602