Interview mit Serge Bignens

"Es wird keine Revolution geben"

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Serge Bignens, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Medizininformatik, spricht im Interview darüber, wie das elektronische Patientendossier erfolgreich starten kann und wie es in Zukunft das Schweizer Gesundheitswesen verändern wird.

Serge Bignens, Vorstandsmitglied, Schweizerische Gesellschaft für Medizininformatik, Leiter des Instituts I4MI an der BFH, Leading Team der BFH Zentrum Digital Society. (Source: zVg)
Serge Bignens, Vorstandsmitglied, Schweizerische Gesellschaft für Medizininformatik, Leiter des Instituts I4MI an der BFH, Leading Team der BFH Zentrum Digital Society. (Source: zVg)

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie die drei Buchstaben "EPD" hören?

Serge Bignens: Haha, da reicht aber eine Seite nicht aus, um es zu beschreiben, ein Buch wäre besser! Mir kommt zuerst die Metapher des früheren Pflicht- und Kür-Programms beim Eiskunstlauf in den Sinn. Wir befinden uns momentan beim Pflichtprogramm, das im Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier festgelegt ist. Es ist Knochenarbeit, um eine hochsichere dezentrale Infrastruktur aufzubauen, mit dem Primärsystem zu vernetzen und in Betrieb zu nehmen. Das Nächste ist die Kür, dafür wird schon trainiert. Die Plattformhersteller bauen Module und Schnittstellen, damit die Gemeinschaften Zusatzdienste anbieten können.

Die Diskussionen zum EPD dauern schon Jahre, trotzdem ist nicht klar, ob es alle Akteure rechtzeitig schaffen. Wo liegt das Problem?

Es liegt einerseits in der legalen und technischen Komplexität dieses riesigen nationalen Projekts und andererseits in dem unvollständigen Anreizsystem, in dem nicht alle Akteure denselben Nutzen haben. Letzteres ist für ein Ökosystem wie das EPD eine grosse Hürde.

Was ist die grösste Herausforderung bei den Vorbereitungen?

In der jetzigen Phase ist es die Anbindung der Primärsysteme wie klinische Informationssysteme und Arztpraxen-Software, die nicht nur eine minimale Dokumentzugriffsfunktion bieten sollten, sondern eine Integration in den Behandlungsprozess und einen höheren Nutzen generieren werden.

Was braucht es ausser dem EPD noch, um die Digitalisierung des Gesundheitswesens voranzubringen?

Ich sehe das EPD als ein wunderbares Werkzeug für Gesundheitsprävention und integrierte Versorgungen. Die Akteure, die innovativ in diesen zwei genannten Sektoren sind, werden die Digitalisierung sinnvoll nutzen und vorantreiben, nicht als Selbstzweck, sondern als Mehrwert-Generator. Dazu ist ein enormer Aus- und Weiterbildungseffort nötig. Daran arbeiten wir.

Wie wird das EPD den Alltag von Gesundheitsfachpersonen verändern?

Es wird keine Revolution geben, sondern progressiv vor sich gehen. Es wird das Bewusstsein der Wichtigkeit des Informationsmanagements und der -übermittlung erhöhen. Die Gesundheitsfachpersonen und auch -einrichtungen werden sich routine­mässig die Fragen stellen müssen: Welche von mir generierten Informationen sind behandlungsrelevant und nützlich für weitere Behandelnde und die Patienten? Mit der Zeit werden sich Best Practices etablieren.

Wie können Arztpraxen und andere Akteure dazu motiviert werden, freiwillig das EPD anzubieten?

Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Mit wachsendem Nutzen, wie dem kommenden Medikationsplan mit Interaktionscheck oder Zusatzdienste für die bilaterale Kommunikation zwischen Gesundheitsorganisationen. Ausserdem durch nicht monetäre Anreize, zum Beispiel sozialen Druck, generiert vom EPD überzeugten Patienten sowie Patientenorganisation, die Success Stories und positive Patiententestimonials mit Mundpropaganda und in den (sozialen) Medien verbreiten werden. Und durch monetäre Anreize, in den Abrechnungstarifen oder durch bilaterale Konventionen in innovativen integrierten Versorgungsmodellen.

Schweizer Spitäler sagen, dass sie bereit sind für den Start des EPD. Ist die Abhängigkeit von Stammgemeinschaften und vom Bund für die Spitäler ein Problem? Und wenn ja, inwiefern?

Die Spitäler sind nicht von Stammgemeinschaften abhängig, sie SIND zusammen mit anderen Gesundheitseinrichtungen die Mitglieder der Stammgemeinschaften. Aber, um weiterhin via KVG abrechnen zu dürfen, müssen die Schweizer Spitäler an einer zertifizierten Gemeinschaft angebunden werden. Es ist eine sehr gute Nachricht, dass sie es ernst genommen haben und bereit sind. Es besteht eine Abhängigkeit in der Form, dass die Gemeinschaften eben zertifiziert sein müssen. Da gibt es momentan einen Engpass. Es gibt nur zwei vom Bund akkreditierter Organisationen, die diese Zertifizierungsvorgänge machen können. Deshalb wird es, wie von E-Health Suisse gemeldet, "leichte Verzögerungen" geben. Für das EPD, das auf eine Verbesserung unseres Gesundheitssystems für die nächsten Jahrzehnten zielt, zeigen alle Akteure, inklusiv der Bund, Verständnis für diese Verzögerung, und dies dürfte nicht ein formelles Problem sein.

Wie sehen Sie die Zukunft des EPDs?

Ich sehe eine Konvergenz von EPD mit M-Health. Neue Dienste werden via dedizierte mobile Applikationen mit krankheitsspezifischen Funktionalitäten angeboten. Es wird möglich sein, selbst generierte Dokumente, wie Verlaufskurven einer mit Sensor gemessenen Glykämie, in seinem EPD zu speichern. Daten wie den aktuellen Medikationsplan können aus dem EPD geholt werden. Diese Art einer Integration EPD – M-Health würde auch Start-ups und andere Innovationsstrukturen ermöglichen, Nutzen aus dem EPD zu schöpfen. Gleichzeitig sollte es mehr Austausche von strukturierten Dokumenten wie Laborresultaten geben. Durch zusätzliche Mehrwertdienste wird das EPD noch attraktiver.

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