Was der Digitalisierung im Gesundheitswesen noch im Weg steht
Gesundheits-Apps, Klinikinformationssysteme, das elektronische Patientendossier – technologisch spricht vieles für ein digitalisiertes Gesundheitswesen. Im Gespräch sagt Sang-Il Kim, Dozent an der Berner Fachhochschule, was noch fehlt und was ihn hoffen lässt.

Sie verantworten am Projekt Patient@Home den Bereich IT-Infrastruktur. Worum geht es dabei genau?
Sang-Il Kim: Das Projekt ist noch nicht wirklich gestartet, wir führten aber bereits 2022 eine Machbarkeitsstudie dazu durch. Auftraggeber war das Spitalzentrum Biel (SZB), mit dem wir als Berner Fachhochschule eng zusammenarbeiten. Ziel von Patient@Home ist es, Patientinnen und Patienten in akuten Situationen möglichst zuhause zu behandeln. Zwei Anwendungsfälle stehen im Zentrum: Zum einen soll eine Hospitalisierung vermieden werden, wenn Monitoring und Versorgung auch zuhause möglich sind. Zum anderen sollen Patientinnen und Patienten früher entlassen werden können, wenn sie klinisch stabil sind, sodass die letzten Tage der Überwachung nicht zwingend im Spital stattfinden müssen.
Und wie sah Ihre Aufgabe dabei aus?
Wir haben analysiert, welche IT-Anforderungen entstehen, wenn Spitalärzte gemeinsam mit Spitex-Teams die Betreuung übernehmen. Auf einmal braucht man mehr Kommunikation und einen Informationsaustausch zwischen dem Spital und der Spitex, wie er heute de facto nicht existiert. Eine weitere Thematik ist das Monitoring. Heute existieren zwar zahlreiche Geräte wie Blutdruckmessgeräte oder Waagen mit Apps, aber deren Daten lassen sich kaum in die Systeme der Leistungserbringer integrieren.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Das Hauptproblem ist, dass die IT-Systeme verschiedener involvierter Akteure, etwa Spital, Spitex, Labore oder Apotheken, oft nicht dafür ausgelegt sind, diese Informationen mit anderen zu teilen. Was fehlt, ist eine Daten- oder Informationsplattform, die es ermöglichen würde, Daten zu einem Patientenfall organisationsübergreifend auszutauschen. Technologisch ist vieles möglich, doch die Umsetzung scheitert an der Finanzierung und fehlenden Anreizmodellen.
Ist das ein spezifisch schweizerisches Problem?
Nein, es ist ein weltweites Thema. Das derzeitige System basiert oft auf Pay-for-Service, also Bezahlung pro erbrachter Leistung. Zielführender wäre Pay-for-Outcome, bei dem der gesamte Behandlungspfad vergütet wird. Solche Modelle sind international aber noch kaum etabliert.
Sie beschäftigen sich nicht nur mit E-Health, sondern auch mit M-Health. Was ist das genau? Und welche Herausforderungen gibt es in diesem Bereich?
M-Health, also Mobile Health, umfasst mobile Geräte und Applikationen – von Smartwatches über Sensoren bis zu Self-Tracking-Apps. Sie generieren viele Daten, doch diese landen meist in Datensilos einzelner Hersteller. Die Hoffnung war, dass Patienten ihre Gesundheit dadurch aktiver managen können. Mittlerweile existieren Hunderttausende von Apps, doch von keiner kann man sagen, dass sie die Welt im Kontext der Gesundheitsversorgung gross verändert hätte. Potenzial gibt es vor allem beim Self-Management und der Förderung der sogenannten Health Literacy respektive Gesundheitskompetenz. Entscheidend bleibt jedoch die Integration in übergeordnete Versorgungsstrukturen.
Sie sprechen die integrierte Versorgung an. Wo stehen wir da?
Integrierte Versorgung bedeutet interprofessionelle und intersektorale Zusammenarbeit zum Wohl der Patientinnen und Patienten. Weltweit gibt es ein paar Leuchtturmprojekte und funktionierende Modelle. In den Vereinigten Staaten gibt es etwa Konglomerate von Krankenversicherern und Leistungserbringern. Sie arbeiten nach dem Capitation- oder Kopfmodell. Einfach erklärt heisst dies, dass ein Netzwerk von Dienstleistern versucht, mit einem bestimmten Budget die optimale Versorgung zu erzielen. Gehen sie dabei sparsam mit den Ressourcen um, rechnet sich das für die Dienstleister und der Patient erhält keine unnötigen Untersuchungen. Hierbei gibt es jedoch auch das Problem oder die Sorge einer Unterversorgung der Patientinnen und Patienten.
Gibt es in der Schweiz auch so etwas?
Hierzulande gibt es immer mehr Politiker, die sich angesichts der steigenden Gesundheitskosten für einen Systemwechsel aussprechen. Es gibt auch schon Pilotprojekte, etwa im Kanton Bern mit Réseau de l’Arc oder bei Krankenkassen wie der CSS. Doch solange es keine klaren Finanzierungsmodelle gibt, bleibt vieles Stückwerk. Und auch in diesen Kontexten wird es notwendig sein, diese Daten besser zu vernetzen und gemeinsam zu nutzen.
Kommen wir zur künstlichen Intelligenz. Wie hat die aktuelle KI-Welle Ihre Arbeit beeinflusst?
Klassische KI, Deep Learning und Machine Learning sind in der Medizin schon lange etabliert. KI-Lösungen für die Radiologie, um Tumore oder Metastasen zu finden, die ein Mensch übersieht, gibt es schon seit 20 Jahren. Neu ist die Dynamik durch grosse Sprachmodelle. Sie bringen besonders im administrativen Bereich Effizienzgewinne, etwa bei der Abrechnung oder Logistik. Für mich als Dozent hat die KI vor allen Dingen Auswirkungen auf die Lehre: Wir mussten Prüfungsformate anpassen und machen viel weniger Open-Book-Prüfungen, weil Studierende mit KI-Tools zu leicht sehr gute Ergebnisse erzielen können. Langfristig sehe ich Potenzial vor allem in der medizinischen Dokumentation: Wenn Ärztinnen und Pflegekräfte weniger Zeit am Schreibtisch verbringen müssen, bleibt mehr Zeit für die Patienten. Dies könnte möglicherweise auch dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Vielleicht werden wir in fünf bis zehn Jahren auch KI-Werkzeuge haben, die man in der Diagnostik und in der Therapie als Medizinprodukte nutzen kann. Diese müssten aber sehr hohe Qualitäts- und Sicherheitskriterien erfüllen.
Sie sprechen von der Zukunft. Manche Firmen werben jetzt schon mit fertigen KI-Lösungen für die Gesundheitsbranche. Wie schätzen Sie das ein?
Tatsächlich werden generative KI-Tools heute schon genutzt. Das geschieht jedoch meist ohne gesetzliche Grundlage beziehungsweise in einer Grauzone. Oft wird dazu gesagt, KI würde als Hilfswerkzeug eingesetzt und die Entscheidungen treffe letztlich der Mensch. Richtig wohl ist mir dabei nicht, denn wie oft werden Menschen wirklich kontrollieren, ob die KI alles richtig gemacht hat? Wirklich vertrauenswürdig werden KI-Systeme erst, wenn sie strenge Qualitäts- und Sicherheitskriterien erfüllen – vergleichbar mit einem Medizinprodukte-Zertifikat. Dafür fehlen bis heute die entsprechenden Studien. Diese sind aktuell in Arbeit und ich glaube, dass wir in Zukunft diese Qualitätskriterien erfüllen werden.
Wo profitieren Patientinnen und Patienten schon heute konkret von KI?
Sehr weit sind, wie erwähnt, Anwendungen in der Diagnostik der Radiologie und Pathologie, aber auch für EKG-Auswertungen. Hier geht es jeweils darum, Muster zu erkennen, und Mustererkennung ist ein Paradebeispiel der KI-Fähigkeiten. Entsprechende Anwendungen werden wir künftig noch mehr sehen – vor allem dann, wenn wir es schaffen, die Unmengen vorhandener Daten zu nutzen. Spannend wird dann die prädiktive Analyse: Modelle können anhand von Mustern frühzeitig Hinweise geben, wenn Patientinnen in kritische Zustände geraten, etwa bei drohender Sepsis.
Sie haben sich unlängst zur Psychotherapie mit KI geäussert. Welches Potenzial sehen Sie dort?
Ich glaube, dass Sprachmodelle einmal so gut werden, dass sie in der Tat in der Psychotherapie auch in akut psychiatrischen Krisensituationen einer bestimmten Gruppe von Patienten helfen können. Studien zeigen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen durchaus positive Erfahrungen mit virtuellen Avataren machen. Natürlich ist es wichtig, dass die Menschen nicht belogen werden. Sie müssen wissen, dass sie einer Maschine gegenübersitzen. Entscheidend wird auch sein, dass solche Systeme mit echten, hochwertigen Patientendaten trainiert und anschliessend wissenschaftlich geprüft werden.
Welche Risiken sehen Sie im Einsatz von KI? Wo sehen Sie allenfalls den Gesetzgeber in der Pflicht?
Eines der grössten Risiken, das viel zu selten genannt wird, ist der ungleiche Zugang: Wer sich leistungsfähige Tools oder ein kostenpflichtiges KI-Abo leisten kann, hat Vorteile. Diese Entwicklung sollte in der Gesundheitsbranche vermieden werden. Ausserdem bestehen Risiken durch Verzerrungen in den Trainingsdaten. Der europäische AI Act wird von einigen Leuten aus der Industrie zwar als zu restriktiv kritisiert. Ich bin aber sehr froh, dass man einen ersten Regulierungsversuch gestartet hat, der das Thema der Verzerrungen nicht ausser Acht lässt. In der Medizin müssen wir klare Zertifizierungsverfahren entwickeln, um Vertrauen zu schaffen. Und das Medizinprodukte-Gesetz oder die Medizinprodukte-Verordnung sollten entsprechend weiterentwickelt werden. Was wir heute bei jedem Banking-Gerät als selbstverständlich erklären, sollte auch für KI in der Medizin gelten: dass sie gut getestet und entsprechend zertifiziert wird.
Abgesehen von KI, welche neuen Technologien faszinieren Sie aktuell?
Spannend finde ich das Thema Robotik. Wir machten beispielsweise Testversuche mit Studentenarbeiten in einem Pflegeheim. Roboter könnten etwa für die Dokumentation oder Aktivierung älterer Menschen genutzt werden. Wir sehen zwar, dass das eigentlich sinnvoll und machbar wäre, allerdings fehlt meist noch ein Businessmodell. Augmented und Mixed Reality bieten ebenfalls Potenzial: Pflegekräfte könnten bei Hausbesuchen durch Expertinnen via smarter Brille unterstützt werden. Mein Hauptsteckenpferd bleibt jedoch E-Health und der intersektorale Datenaustausch – insbesondere das elektronische Patientendossier.
Der Bundesrat möchte das EPD-Gesetz bekanntlich revidieren. Was halten Sie von der Idee? Ist das die Revolution, die das EPD zum Fliegen bringt?
Es wird in der Schweiz keine Revolution im Gesundheitswesen geben. Das ist per se nicht möglich, weil wir andere gesetzgeberische Strukturen haben als andere Länder. Aber die geplante Revision adressiert die richtigen Punkte und ich hoffe, dass das Parlament den Vorschlag durchwinkt. Parallel dazu müssen aber auch Themen wie die elektronische Identität vorangetrieben werden. Wir brauchen dringend eine E-ID, damit wir die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben können. Das EPD selbst wird erst durch Akzeptanz in der Bevölkerung wirklich fliegen. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass der Druck am Ende von der Strasse kommen wird, wenn die Patienten das EPD wirklich nutzen und verstanden haben, welchen Mehrwert es ihnen bringt.
Und wie beurteilen Sie das Bundesprogramm Digisanté?
Ich leitete beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) die damals neue Abteilung für digitale Transformation. Das Ziel war damals schon, eine neue Digitalstrategie für das Gesundheitswesen zu schaffen, und wir arbeiteten an den Grundlagen, aus denen Digisanté entstand. Ich finde es wichtig, eine Gesamtstrategie zu haben und E-Health in andere E-Gov-Themen einzubetten. Digisanté schafft wichtige Grundlagen und Standards für das Schweizer Gesundheitswesen. Die Finanzmittel werden aber vor allem den Behörden zugutekommen. Spitäler und Praxen und andere Leistungserbringer profitieren nur indirekt. Mit rund 400 Millionen Franken über zehn Jahre ist das Programm im Verhältnis zu den Gesamtkosten im Gesundheitswesen – etwa 90 Milliarden Franken im Jahr – relativ klein. Dennoch ist es unverzichtbar, um langfristig Fortschritte zu erzielen.
Was wünschen Sie sich für die E-Health-Zukunft der Schweiz?
Entscheidend ist, Patientinnen, Patienten und Fachpersonen vom Nutzen eines besseren Informationsmanagements zu überzeugen. Die Technologie ist vorhanden, es fehlt an Wille, Finanzierung und Kooperation. Wenn wir zeigen, dass Datenaustausch Sicherheit schafft und Arbeit reduziert, wächst auch die Akzeptanz.
Wie kommen wir diesem Ziel näher?
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in der Schweiz eines der besten Gesundheitssysteme der Welt haben – und zwar trotz schlechter Vernetzung. Die Beständigkeit der Strukturen im Gesundheitswesen ist gewaltig. Sehr viele Akteure wollen keinen Wechsel, keinen Wandel. Es könnte uns jedoch noch besser gehen und wir könnten noch mehr medizinische Versorgungssicherheit und bessere Qualität haben, wenn wir die Daten besser nutzen würden. Doch anstatt mit dem Finger immer nur auf Politiker zu zeigen, müssten wir als Konsumentinnen und Konsumenten und als Steuerzahler auch etwas mehr einfordern. Damit es besser wird, müssen letztlich verschiedene Faktoren zusammenspielen.
Zur Person
Sang-Il Kim hat seine Karriere am Radiologischen Institut in Hamburg gestartet, wo er unter anderem fünf Jahre lang als Assistenzarzt tätig war. Es folgten über sechs Jahre bei Siemens, zuletzt Siemens Business Services in Zürich Altstetten. Zu seinen weiteren beruflichen Stationen in der Schweiz gehörten eHealth Suisse und die Schweizerische Post. Ab Frühling 2020 leitete Kim zwei Jahre lang die Abteilung Digitale Transformation beim Bundesamt für Gesundheit (BAG), bevor er zur Berner Fachhochschule (BFH) wechselte. Dort ist er als Co-Leiter des Instituts für Medizininformatik tätig. Unter anderem lehrt und forscht Kim zu Themen wie E-Health und M-Health, technische und semantische Interoperabilität sowie neue Versorgungsformen, darunter Hospital@Home. Kim studierte Informatik an der Universität Hamburg und Humanmedizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

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