Interview mit Jürgen Urbanski, Cheftechnologe von T-Systems

"Die Cloud funktioniert eher wie das Carsharing"

Uhr | Aktualisiert
von René Mosbacher

Jürgen Urbanski, Cheftechnologe von T-Systems, erklärt, was Cloud Computing mit Carsharing zu tun hat und warum die IT von der Autoindustrie lernen kann.

Herr Urbanski, die Deutsche Telekom hat entschieden, die IT-Produktion grossflächig auf Cloud umzustellen.

Ja, die Deutsche Telekom, zu der T-Systems gehört, hat am 1. Januar beschlossen, ein Cloud Leadership Team zu schaffen. Das soll zum einen dafür sorgen, dass das ganze Thema Cloud innerhalb des Unternehmens zusätzlichen Schub erhält. Zum anderen ver­spricht man sich davon auch eine bessere Koordination der einzelnen Geschäftsein­heiten, auch international gesehen. Wie Sie wissen, betreibt die Deutsche Telekom in 16 Ländern Mobil- oder Festnetze. Dazu kommt T-Systems für das Enterprise-Segment und kommen weitere, teilweise lokale Geschäfts­einheiten. Innerhalb des Konzerns hat T-Sys­tems eine gewisse Vorreiterrolle, da wir schon seit 2005 Erfahrung im Betrieb von Cloud-Services sammeln konnten.

Und was ist Ihre Rolle dabei?

Im vierköpfigen Cloud Leadership Team der Muttergesellschaft bin ich für Cloud-Archi­tekturen, -Technologien und -Plattformen zuständig. Den Vorsitz im Team hat Dirk Back­ofen, er ist Leiter Marketing Geschäftskunden bei der Deutschen Telekom. Meine Hauptauf­gabe liegt in der weiteren Transformation des ICT-Services-Portfolios und der ICT-Services-Produktion in Richtung Cloud. Letztlich geht es also darum, diesen Umbau so zu steuern, dass wir Cloud-Dienste mit höherer Kapitalef­fizienz produzieren. Wir wollen neue Services schneller und mit weniger Upfront-Invest­ment auf den Markt bringen. Und wir möch­ten unseren Kunden die Innovation proaktiver aus dem Ökosystem verschiedener Hersteller integriert zur Verfügung stellen können.

Wie definieren Sie eigentlich Cloud Compu­ting?

Ich definiere das ziemlich nach Lehrbuch. Dabei orientiere ich mich an den fünf Krite­rien, die vom National Institute of Standards & Technology festgelegt wurden: Ein Cloud-Dienst muss on Demand funktionieren, er muss über das Netz verfügbar sein und man bezahlt nur das, was man braucht. Die Inf­rastruktur muss skalierbar sein und das Pro­dukt zeichnet sich durch einen hohen Grad an Selbstbedienung aus, muss also entspre­chend automatisiert betrieben werden.

Das klingt recht akademisch.

Im Grunde ist das wie der Schritt vom Auto­kauf übers Leasing zum Carsharing. Wenn ich genau weiss, welches Auto ich brauche und dass ich es fahre, bis es auseinanderfällt, wenn ich genügend Kapital habe und mich auch um die Wartung regelmässig kümmern will, dann sollte ich mir das Auto kaufen. Das ist die Analogie zur klassischen internen IT. Wenn ich aber das Kapital nicht aufbringen will und das Auto einfach als Transportmittel für vier Jahre brauche und zudem weniger mit der Wartung zu tun haben will, dann lease ich es. Das entspräche dann dem Outsourcing in der IT. Die Cloud funktioniert aber eher wie das Carsharing. Wenn ich nicht weiss, ob ich morgen ein Auto brauche, und auch nicht, ob es ein grosses oder ein kleines sein soll, dann miete ich am besten eines. So bleibe ich flexibel und fahre immer mit dem neuesten Modell.

Wer ist denn aus Ihrer Sicht heute der typi­sche Kandidat für Cloud-Dienste?

Vermutlich nicht gerade die ganz kleinen Fir­men. Bei den Geschäftskunden ist vermutlich schon der Mittelstand die Speerspitze des Cloud Computing. Nehmen wir zum Beispiel einen grossen Mittelständler mit 300 Millio­nen Umsatz. Gerade in der Schweiz sind sol­che Firmen oft sehr international aufgestellt, mit Standorten auf der ganzen Welt und meh­reren Produktlinien oder -segmenten. Die funktionalen Anforderungen an die IT sind in solch einer Firma aber sehr ähnlich wie die in einem grossen Konzern mit 3 Milliarden Umsatz. Leider kann sich die 300-Millionen-Firma nicht annähernd dieselbe IT leisten wie die 3-Milliarden-Firma. Hier hilft nur IT aus der Cloud – dann skaliert die Leistung linear mit dem Budget. Bei On-Premise-Lösungen sind die Eintrittsbarrieren zu hoch im Sinne von erforderlicher Expertise und der Minimalkapazität, die ich aufbauen müsste.

Und die grossen Konzerne?

Bei den Grosskunden, bei denen es bei der Umsetzung neuer Themen oft etwas harzt, treten andere Vorteile der Cloud in den Vor­dergrund. Zum einen könnte man das als Innovation im Abo bezeichnen: Sie können übers Netz immer die aktuelle Version der Anwendung oder der Technik beziehen. Zum anderen denke ich an den Gewinn an Flexibilität. Das heisst auch: weg von zent­ralen Einkaufsentscheidungen hin zu mehr Entscheidungsspielraum für die Geschäfts­verantwortlichen und Business Owner. Der zentrale CIO wird damit – etwas jovial gesagt – zum Cloud Interface Officer.

Vor etwa einem Jahr hat Ihre Firma kommu­niziert, sie sehe das Wachstumspotenzial weniger in der Public Cloud als in der Private Cloud – gilt das immer noch?

Ja, das gilt für Geschäftskunden noch immer. Das hängt einfach damit zusammen, dass die Unternehmen wegen rechtlicher Unsicher­heiten nach wie vor nicht gerne in die Public Cloud gehen. Bei der Deutschen Telekom/T-Systems nehmen wir das Thema Sicherheit sehr ernst. Von Anfang an stand bei der Ent­wicklung unserer Cloud-Angebote die Daten- und Ausfallsicherheit im Fokus. Die Kunden­daten fliessen über abgeschottete Leitungen, also VPN-Tunnel. Daten werden in Zwillings­rechenzentren gespiegelt und synchronisiert. So können Kunden auch beim möglichen Ausfall eines Servers ohne Probleme weiter­arbeiten.

Zurück zu Ihrem Projekt: Will T-Systems mit der Cloud vor allem Geld sparen oder Geld verdienen?

Wir wollen auf jeden Fall Geld verdienen. Heute haben wir im Konzern knapp 30 ver­schiedene Cloud-Angebote für Privat- bis hin zu Grosskunden. Allein im Jahr 2011 haben wir konzernweit eine halbe Milliarde Euro Umsatz mit Cloud-Diensten gemacht. Wir halten die Cloud für eine ähnlich grosse Transformation der IT wie den Wechsel von Mainframes zu Client-Server-Lösungen vor 20 Jahren. Unser Ziel ist daher sehr ambiti­oniert, nämlich bis 2015 den Jahresumsatz mit Cloud-Diensten um etwa zwei Milliarden Euro zu steigern.

Wo liegt für Sie eigentlich die wirtschaftliche Logik hinter der Cloud?

Das ist wie mit den meisten Innovationen: Sie haben in der Summe einen inflationären und nicht einen deflationären Effekt. Was ich damit sagen will: Die Dienste oder Pro­dukte werden zunächst einmal billiger und einfacher konsumierbar, aber die Nachfrage überkompensiert das. Mit Cloud wird IT für viel mehr Einsatzgebiete interessant und erschwinglich.

Wie bringt man einen Koloss wie die Deut­sche Telekom bei laufendem Betrieb in die Cloud?

Zum Glück haben wir bei T-Systems schon sieben Jahre Erfahrung mit Cloud. Die Trans­formation, die notwendig ist, um IT-Services aus der Cloud zu produzieren, hat deutli­che Parallelen zur Automobilindustrie. Dort benutzt man zum Beispiel hoch modulare Plattformen mit vielen gleichen Teilen. Da man so ein neues Modell zu 80 bis 90 Prozent auf existierenden Modulen aufbauen kann, ist es möglich, schnell neue Autos auf den Markt zu bringen. So können auch Kleinse­rien profitabel sein. Die Produktionskapazität ist über verschiedene Länder hinweg gepoolt. Die Fabrik in Südafrika kann dasselbe Auto in derselben Qualität produzieren wie die Fab­rik in den USA. Damit kann der Output flexi­bel zwischen den verschiedenen Standorten verschoben werden. Ferner haben wir in der Auto-Branche ein hohes Mass an Automa­tion über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg, bis hin zur Onlinekonfiguration des Autos durch den Kunden. Ausserdem sind die Autokonzerne in der Lage, ständig Innovatio­nen aus dem grossen Ökosystem der Zuliefe­rer ins Auto zu bringen. Mit anderen Worten: Der OEM konzentriert sich auf Kundenbin­dung und die Integration dieser Innovationen in ein Gesamtportfolio.

Und auf Ihr Projekt umgelegt heisst das was?

Wir haben zehn Cloud-Technologie-Initia­tiven definiert, die diese Prinzipien schritt­weise umsetzen. Dazu kann ich einige Bei­spiele nennen: Wir ziehen gerade unter unsere verschiedenen Cloud-Anwendungen eine homogene und hoch automatisierte Infrastruktur. Die basiert unter anderem auf Unified Computing und schafft eine Abstraktionsschicht zwischen den virtuel­len Maschinen und der Hardware. Als gro­sser Anbieter müssen wir mehrere relevante Cloud-Ökosysteme unterstützen. Dazu gehört sicher das von Microsoft und das von VMware. Neu betreiben wir aber auch Openstack, also das führende Ökosystem für Open-Source-Cloud-Infrastrukturen. Um das effizient abbilden zu können, brauchen wir im Betrieb hoch modulare Plattformen. Zur Schaffung wachsender Ressourcenpools über Rechenzentrumsgrenzen hinweg trägt auch das Software Defined Networking bei. Hiermit ziehen wir über unsere physischen Netze eine virtuelle Schicht, analog zu dem, was bei den Servern mit der Virtualisierung gemacht wurde. Das Thema verfolgen wir sehr genau. Die Automatisierung und den Selfservice lösen wir über unseren kürzlich vorgestellten Business Market Place. Das ist eigentlich nichts anderes als ein App-Store für Firmen. Er wurde allerdings zunächst für die kleinen Unternehmen geschaffen, wir bauen ihn gerade für die mittleren aus.

Wo stehen Sie jetzt in Ihrem Cloud-Projekt?

Es ist eine Reise über mehrere Jahre. T-Systems hat 90 Rechenzentren mit etwa 58 000 Servern weltweit. Wir sind aber schon auf gutem Weg, das belegt die halbe Milliarde Euro Cloud-Umsatz im Jahr 2011. Das wird auch von den Analysten so gesehen.

Wo liegen die heiklen Punkte? Haben Sie sich schon eine blutige Nase geholt?

Es ist immer eine Herausforderung, einen sol­chen Wechsel durch eine grosse Organisation zu treiben. Immerhin hat der Gesamtkonzern etwa 250 000 Mitarbeiter und bei T-Systems allein sind es schon mehr als 47 000. Hier gibt es keine Patentrezepte. Nur ein Beispiel: Eine konventionelle IT ist klar segmentiert. Es gibt Leute, die machen Server, andere machen Netze und so weiter. Wenn ich jetzt eine vir­tuelle Schicht darüberziehe, verändern sich Verantwortlichkeiten und Arbeitsstrukturen. Solche Dinge gilt es in den Griff zu bekom­men.

Wie sorgen Sie dafür, dass Sie die Leute un­terwegs nicht verlieren?

Man muss stets dafür sorgen, dass der Erfolg eines solchen Projekts nicht nur der Erfolg von wenigen ist, sondern in die Breite getragen wird. Für einen Mitarbeiter in der IT sollte die Cloud keine Bedrohung sein. Vielmehr sollte er es als eine Riesenchance wahrnehmen, diese Reise professionell zu begleiten und kompetent in die richtigen Bahnen zu lenken. Solch eine Chance, beruflich auf die nächste grosse Wachstumsphase der IT aufzusprin­gen, kommt in der Tat nur alle zwanzig Jahre einmal.

Wie weit ist Ihre eigene Firma eigentlich schon cloudisiert?

Ich habe keine genauen Zahlen, aber ich weiss, dass wir im Enduser-Bereich zum Bei­spiel mehrere tausend iPads unterstützen. Unsere Businessapplikationen laufen auf unseren Dynamic Services for Business Apps, also in einer Cloud. Wir nutzen auch das Application Performance Management, das uns im Netz einen Quality of Service sicher­stellt. Das ist wichtig, weil durch Cloud nicht nur insgesamt mehr Bits über das Netz reisen, sondern auch mehr kritische Bits. Ein Bei­spiel hierfür wäre eine Videokonferenz mit einem Kunden.

Wie ist Bring your own Device bei Ihnen gelöst?

Wir nutzen unter anderem die Enterprise-Mobility-Lösung von SAP namens Sybase Afaria. Die erlaubt es uns, die Geräte zentral zu kontrollieren, bis hin zum Sperren oder Löschen der Daten, wenn die Tablets gestoh­len oder verloren worden sind.

Wie lange läuft das Cloud-Projekt noch?

Das Projekt hat kein definiertes Ende. Aber ich gehe davon aus, dass wir etwa drei Jahre brauchen werden, um unsere hochgesteckten Ziele zu erreichen.

Und was machen Sie dann?

Dann setzen wir uns noch mal zusammen, oder? Im Ernst: Im Laufe von drei Jahren werden wir auf viele neue Geschäftsmöglich­keiten stossen, die heute noch nicht auf dem Radar sind, die man aber unbedingt umsetzen sollte. So funktioniert unsere Branche, und so habe ich das während meiner zehn Jahre im Silicon Valley immer wieder erlebt. Also, wer weiss, was in drei Jahren ist? – Aber es wird sicher etwas Spannendes kommen!