Brain Forum 2021

Auf der Suche nach dem E-Health-Boost

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von René Jaun und jor

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens kommt nach wie vor nur schleppend voran. Das liegt nicht an einem einzelnen Akteur, wie an der Debatte der Stiftung Brain Forum deutlich wurde. Um einen Durchbruch zu erreichen, braucht es mehr Nutzen und mehr Zusammenarbeit.

Die Paneldiskussion am Brain Forum (v.l.): Margrit Leuthold, Ernst Hafen, Teresa Sollfrank und Thomas Grunwald. (Source: zVg)
Die Paneldiskussion am Brain Forum (v.l.): Margrit Leuthold, Ernst Hafen, Teresa Sollfrank und Thomas Grunwald. (Source: zVg)

"Die Welt durchlebt gerade die grösste Gesundheitskrise des Jahrhunderts – wie kann es sein, dass der Gesundheitssektor seine Systeme nicht digitalisiert hat, um die Leistungsfähigkeit zu optimieren? Was kann getan werden, um das Problem zu beheben?" Diese Fragen bildeten den Kern einer Debatte der Stiftung Brain Forum. Man wolle sich darauf fokussieren, umsetzbare digitale Lösungen für das Gesundheitswesen zu identifizieren, die Aufmerksamkeit auf die Herausforderungen der Zukunft zu richten und die ausserordentliche Effizienz hervorzuheben, die sich aus einer digitalen Transformation ergibt, kündigte die Stiftung in der Einladung an.

Knackpunkt Datenaustausch

Wie es um E-Health steht, zeigte Thomas Grunwald, Neurologe und ehemaliger Direktor des Schweizerischen Epilepsie-Zentrums in Zürich, anhand eines Beispiels aus seiner Praxis. Um einen Verdachtsfall auf Epilepsie zu untersuchen, brauche er Messdaten von Herz und Gehirn vom behandelnden Arzt, erklärte er. Es dauere in der Regel schon seine Zeit, bis der Kollege seine Anfrage bearbeite. Die Datenlieferung erfolge dann auf dem Postweg, mit einer gebrannten CD. Nicht selten könne sein EEG-Reader mit dem gelieferten Dateiformat nichts anfangen, und er müsse eine erneute Lieferung beantragen. Kurz: Der Datenaustausch ist viel zu langsam, und die Diagnose verzögert sich. "Könnt ihr mir helfen, dies in Zukunft zu verbessern?" fragte er in die Runde.

Eine mögliche Lösung des Problems präsentierte Teresa Sollfrank, Chief Product Officer bei NeuroPro. Das Start-up entwickelt eine Cloud-Plattform, die das Teilen medizinischer Daten ermöglichen soll. Jedes Spital habe heute ein eigenes Dateiformat, erklärte sie. Es gehe also zunächst darum, die Daten in ein universelles Format umzuwandeln. Doch das sei nur der erste Schritt: "Sie können eine Datei gemeinsam mit einem anderen Arzt bearbeiten", sagte sie. Das funktioniere auch einrichtungs- oder länderübergreifend, und eröffne neue Möglichkeiten im Bereich der Ferndiagnosen.

Teresa Sollfrank, Chief Product Officer bei NeuroPro. (Source: zVg)

Das Projekt läuft mittlerweile seit 5 Jahren, und die Plattform werde aktuell in immer mehr Gesundheitseinrichtungen aufgeschaltet. Zu den Herausforderungen gehört der stark regulierte Gesundheitsmarkt. Zudem sei es ihnen wichtig, das Vertrauen der Spitäler zu gewinnen und das Produkt gemeinsam mit ihnen zu entwickeln, führte Sollfrank weiter aus. Welche Projekte Neuropro sonst noch verfolgt, lesen Sie im Portrait.

Sean Hill, Gründer und Direktor des Krembil Centre for Neuroinformatics am Centre for Addiction and Mental Health (CAMH) in Toronto, Kanada, plädierte für mehr Interoperabilität, und für mehr qualitative Daten, denn: "Die globalen Lösungsanbieter für elektronische Gesundheitsdaten haben ihre Systeme auf administrative Zwecke ausgerichtet, und nicht auf hochqualitative Daten, maschinelles Lernen oder Analytics."

Hills Institut entwickelt deswegen die Brain Health Database, um den Datenaustausch zur Hirnforschung zu erleichtern. Die Weitergabe von Patientendaten an die Wissenschaft werde durch Regulationen stark eingeschränkt, erklärte er. Dennoch sei es möglich, Patientendaten auch ausserhalb der eigenen Einrichtung Forschern zugänglich zu machen. Wichtig dabei sei eine klare Governance, sagte Hill. Der Patient müsse die Daten zur Weitergabe freigeben, und es müsse klar geregelt sein, welche Forscher darauf zugreifen können.

Daten besitzen, Nutzen schaffen

Waren bis zu diesem Zeitpunkt vor allem Lösungen diskutiert worden, mit denen Fachkräfte und Forscher aus der Gesundheitsbranche Daten austauschen und verwenden können, richtete ETH-Professor Ernst Hafen den Blick auf die Rolle des Patienten. Das eingangs von Thomas Grunwald geschilderte Datenproblem wäre nicht vorhanden, wenn die Daten beim Patienten gespeichert wären statt in der Arztpraxis, sagte der Mitgründer der Non-Profit-Genossenschaft Midata.

Hätte er seine Gesundheitsdaten auf dem Handy gespeichert, könnte er sie selbstbestimmt an Spitäler weitergeben. Hafens Prämissen: Jede Patientin und jeder Patient hat das Recht, eine Kopie der eigenen Gesundheitsdaten zu erhalten; die Daten sind gleichmässig auf alle Bürgerinnen und Bürger verteilt; und die Patienten werden zu den Aggregatoren ihrer Daten. Lesen Sie hier mehr darüber, warum laut Hafen Daten unter die Kontrolle der Bürger gehören.

Wie neu diese Idee ist, stellte sich in der weiteren Diskussion heraus: "Wir erleben den Zusammenstoss zweier Kulturen", brachte es Thomas Grunwald auf den Punkt. Noch während seines Studiums habe man ihn vor Datengesuchen gewarnt: "Entweder wollen Sie dich verklagen, oder sie wollen unsere Daten stehlen, um eigene Forschung zu betreiben." Und Teresa Sollfrank schilderte, dass es auch heute mitunter unmöglich sei, anonymisierte Forschungsdaten von Spitälern zu erhalten, selbst wenn Patienten dem zugestimmt hätten.

Die Paneldiskussion am Brain Forum (v.l.): Margrit Leuthold, Ernst Hafen, Teresa Sollfrank und Thomas Grunwald. (Source: zVg)

Doch wann sind Patientinnen und Patienten tatsächlich bereit, ihre Daten zu teilen? Das hänge wahrscheinlich vom Nutzen des Teilens für den Einzelnen ab, sagte Ernst Hafen. Ähnlich verhalte es sich auch mit Gesundheits-Apps: "Wir nutzen heute Smartphones nicht, weil wir müssen, sondern weil sie für uns nützlich sind."

Gefragt nach dem Erfolgsrezept seiner Projekte, erklärte Sean Hill, dass sein Institut versuche, den Patienten und den Fachkräften etwas für ihre Daten zu bieten. "Häufig geht es ausschliesslich um die Risiken der Digitalisierung oder um Hacks, weil die Teilnehmenden sich der eigentlichen Möglichkeiten nicht bewusst sind." Als nützliche Beispiele könnten die eingegebenen Daten etwa visualisiert oder mit jenen anderer Patienten verglichen werden.

Gemäss dem kürzlich aktualisierten E-Health-Barometer hat das elektronische Patientendossier in der Schweizer Bevölkerung wieder an Rückhalt gewonnen. Und dank SwissCovid könnten künftig auch andere Gesundheits-Apps einen besseren Stand haben, lassen die Ergebnisse vermuten.

Fazit: Gemeinsam weitermachen

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens krankt nicht einfach an einer Stelle, wie die Paneldiskussion zeigte. In ihren abschliessenden Statements richteten sich die Teilnehmenden sowohl an die Politik, die Gesundheitsbranche als auch an die Patientinnen und Patienten. Die Schweiz als kleines aber diverses Land sollte ihre Chance nutzen, riet Sean Hill und erinnerte Patientinnen und Patienten an den Wert ihrer eigenen Gesundheitsdaten. Neue Datenschutzgesetze sollten – wenn überhaupt, nicht nur von Anwälten, sondern auch von Patienten und Gesundheitsfachkräften gemacht werden, wünschte sich Thomas Grunwald, und ermutigte Patientinnen und Patienten, sich eine Kopie ihrer relevanten Gesundheitsdaten zu besorgen.

Ernst Hafen brachte die Idee eines Datenspende-Abzeichens ins Spiel und ermutigte eine von Patientinnen und Patienten geführte Datenstelle. Teresa Sollfrank wünsche sich Gesetze, die Innovationen unterstützten anstatt zu behindern, und lud Gesundheitseinrichtungen dazu ein, sich an der bestehenden Kollaborationsplattform zu beteiligen.

Teresa Sollfrank plädierte für Gesetze, die Innovationen unterstützen anstatt zu behindern. (Source: zVg)

Moderiert wurde die Debatte von Margrit Leuthold, ehemalige stellvertretende Direktorin des Future Health Technologies Programs am Singapore-ETH Center. Sie zieht auf Anfrage ein positives Fazit: Es sei eine konstruktive Diskussion gewesen, bei der nicht nur die Stolpersteine angesprochen worden seien. Sie habe gelernt, dass es zur Digitalisierung des Gesundheitswesens keinen Zauber brauche: "Es geht um Vertrauen, das Einhalten von Sicherheitsstandards und darum, alle Stakeholder frühzeitig einzubeziehen. Verlieren kann eigentlich niemand, aber wir können alle gewinnen, wenn wir es richtig und gemeinsam anpacken."

Margrit Leuthold zieht ein positives Fazit: "Verlieren kann eigentlich niemand". (Source: zVg)

Die Debatte von The Brain Forum wurde am 26. Mai aufgezeichnet. Sie kann auf der Website der Stiftung nachgeschaut werden.

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