Interview mit Raphael Sznitman

Wie KI dem Patientenwohl dienen soll

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Raphael Sznitman leitet das vor einem Jahr gegründete Center for Artificial Intelligence in ­Medicine (CAIM) in Bern. Er wolle Technologien mit echtem Mehrwert fördern, sagt er im ­Interview und verrät, wie Patientinnen und Patienten heute schon von künstlicher Intelligenz ­profitieren können.

Raphael Sznitman, Direktor des Center for AI in Medicine. (Source: digitalemassarbeit.ch)
Raphael Sznitman, Direktor des Center for AI in Medicine. (Source: digitalemassarbeit.ch)

Im März 2021, also vor etwas mehr als einem Jahr, haben Sie das Center for Artificial Intelligence in Medicine (CAIM) in Bern eröffnet. Wie geht es dem Zentrum heute?

Raphael Sznitman: Wir haben ein sehr erfolgreiches erstes Jahr hinter uns und blicken auf viele Meilensteine zurück, die wir trotz der Pandemie erreicht haben. So veröffentlichten wir zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten über die Anwendung von KI-Tools in der Neurologie, der Chirurgie, der Augenheilkunde, der Ernährung, dem Hören und der Krebsbehandlung, um nur einige zu nennen. Auch lancierten wir einen neuen Masterstudiengang für KI in der Medizin für junge Ingenieure. Ausserdem haben wir unseren Forschungsfonds ins Leben gerufen und die ersten Pilotprojekte ausgewählt, die unser Zentrum unterstützen wird. Anfang Mai haben wir schliesslich eine Initiative zu mehr Diversität und Inklusion in KI-Forschung für das Gesundheitswesen lanciert.

CAIM ist ein Zusammenschluss mehrerer Berner Institutionen. Was macht die Region Bern im Bereich Medizin und KI so besonders?

Wir profitieren in Bern von einer einzigartigen Konstellation. Sie vereint Akteure aus Wissenschaft, Gesundheitswesen und Industrie, die seit Jahrzehnten eine synergetische Zusammenarbeit pflegen. Bern hat eine lange Tradition in der Erforschung und Entwicklung neuer Technologien für die Medizin und war Pionier bei der Einbindung von Biomedizintechnikern direkt in die Klinik. Die Gründung des CAIM durch die Medizinische Fakultät der Universität Bern und das Inselspital Bern ist eine natürliche Fortsetzung dieser Philosophie, Ingenieurwesen, Technologie und Medizin zusammenzubringen. Und mit den Universitären Psychiatrischen Diensten (UPD) und dem Schweizerischen Institut für Translationale und Unternehmerische Medizin, «sitem-insel», als Partner können wir den gesamten medizinischen Bereich sowie die Themen Kommerzialisierung und Spin-offs abdecken.

Die Schweiz als Land hat einen eher schlechten Ruf, wenn es um die Digitalisierung im Gesundheitswesen geht. Wie sehen Sie das als Forscher?

Anfangs war die Schweiz bei der digitalen Transformation des Gesundheitswesens eher langsam. Aber in den letzten fünf Jahren hat sich dieser Trend ziemlich effektiv gedreht und wir sehen eine Vielzahl an E-Health-Projekten und -Initiativen. Da­rum glaube ich, dass die mittelfristigen Aussichten für die Schweiz sehr positiv sind.

Wie wirkt sich der allgemeine Stand von E-Health in der Schweiz auf Ihre Arbeit und die des CAIM aus?

Ein Teil der Forschung in meinem Labor und am CAIM befasst sich mit Cutting-Edge-Technologien. Wir suchen ständig nach neuen Möglichkeiten und erforschen, wie sich Spitzentechnologien auf Gesundheitssysteme und Patienten auswirken können. Der aktuelle Stand von E-Health in der Schweiz hat keinen direkten Einfluss auf diese Forschung, sondern kommt erst später – bei der Integration in das Gesundheitssystem – zum Tragen.

Sie erwähnten bereits den zum CAIM gehörenden Forschungsfonds. Welche Projekte unterstützt dieser Fonds konkret?

In diesem Frühjahr haben wir fünf Projekte aus verschiedenen medizinischen Disziplinen ausgewählt, die unser Fonds in den kommenden zwei Jahren unterstützen wird. Sie zielen darauf ab, einige der grössten Herausforderungen der heutigen Zeit in der medizinischen Akutversorgung, der Vorbeugung von Gesundheitsrisiken mit hoher Prävalenz und der Bereitstellung einer massgeschneiderten Just-in-time-Versorgung für chronische Krankheiten zu lösen. Sie befassen sich mit Herzmuskelentzündungen, der Prävention von Nierensteinen, der Überwachung von Multipler Sklerose, der Unterstützung von Pflegefachpersonen während Nachtschichten sowie mit der Entwicklung einer App, mit der Frauen in den Wechseljahren ihre persönlichen Gesundheitsrisiken managen können. Alle Projekte haben einen greifbaren Patientennutzen als Ziel. Dies ist uns beim CAIM wichtig, da wir keine Technologie ohne echten Mehrwert ent­wickeln wollen.

Auf Ihrer persönlichen Website schreiben Sie, dass Ihre Forschungsinteressen in den Bereichen medizinische Bildanalyse, Computer Vision und maschinelles Lernen liegen. Was hat Sie ursprünglich dazu inspiriert, in diesen Bereichen zu forschen?

Was mich an künstlicher Intelligenz reizte, war die Art und Weise, wie die Technologie menschenähnliche Verhaltensweisen nachahmt. Sie scheint intelligent zu sein, ist es aber nicht in derselben Art wie wir Menschen, denn sie funktioniert nur bei ganz bestimmten Aufgaben. Ich habe zunächst Neuropsychologie studiert, um den Lernprozess zu verstehen, und bin dann in ein eher technisches Gebiet übergegangen, weil ich wissen wollte, wie Maschinen lernen und neue Informationen verarbeiten. Dann interessierte ich mich dafür, Technologie für Patienten und Ärzte nutzbar zu machen, um neue und personalisierte Behandlungsmethoden zu unterstützen.

Sie befassen sich nun schon seit vielen Jahren mit künstlicher Intelligenz und Computer Vision. Gibt es etwas, das Sie heute wissen und von dem Sie wünschten, Sie hätten es von Anfang an gewusst?

Ein sehr wichtiger Punkt ist, immer aufgeschlossen zu bleiben. Als ich anfing, mit klinischen Experten zusammenzuarbeiten, wurde mir klar, dass ihre «Sprache» und ihre Herangehensweise an medizinische Probleme ganz anders ist als die eines Ingenieurs. Wenn man es wagt, über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets hinauszublicken, kann man diese beiden Welten mit­einander verbinden. Dadurch gelangt man zu einem tieferen Verständnis dafür, wie eine KI-Technologie eingesetzt werden muss. Gemischte Teams, die dieses gemeinsame Ziel verfolgen, können sehr erfolgreiche Projekte vorantreiben. Und ich glaube, dass diese Denkweise und das ständige Streben nach Iteration, Verbesserung und Validierung der eigenen ­Ideen den Kern aller erfolgreichen KI-Projekte in der Medizin ­bilden.

Sie sind auch Leiter einer Forschungsgruppe für KI, die sich bisher viel mit Augenheilkunde ­befasst hat. Wenn ich künstliche Intelligenz und Com­puter Vision höre, stelle ich mir spontan vor, dass Sie wohl an einer Art künstlicher Augen tüfteln. Ist
das so?

Nun, bisher haben wir uns mehr auf die Entwicklung von KI-Tools konzentriert, die Augenärzten helfen können, die Bildgebung des Auges schneller zu beurteilen, indem sie wichtige Biomarker in Augenscans identifizieren. In Zukunft ist es jedoch denkbar, dass das Auge als allgemeines «Fenster» zum Körper dienen könnte. Mit seiner Fülle an Informationen könnte es Hinweise auf Gefäss- oder neurologische Erkrankungen geben, die von einer KI erkannt und ausgewertet werden könnten.

Welche praktischen Anwendungen für die ­Ophthalmologie haben Sie schon entwickelt?

KI-Technologien können beispielsweise einen umfangreichen Datensatz von Augenscans in nur wenigen Sekunden analysieren und Bereiche mit Entzündungen oder Flüssigkeitsablagerungen markieren, die auf eine Vielzahl von chronischen Augenerkrankungen hinweisen. Da diese Hilfsmittel schnell und genau sind, können Augenärzte bei Beratungsgesprächen klarer beurteilen, wie schnell eine chronische Krankheit wie AMD (altersabhängige Makuladegeneration) fortschreitet, wie oft die Patienten behandelt werden und zu Nachuntersuchungen kommen müssen. Bislang war dies eine mühsame manuelle Aufgabe für Ärzte, die jedes Jahr eine ständig wachsende Zahl von Patienten mit chronischen Augenkrankheiten behandeln müssen. KI hilft hier nicht nur aus organisatorischer Sicht (Planung der Sprechstundenkapazitäten), sondern gibt den Patienten auch mehr Sicherheit, dass sie keine wichtigen Momente verpassen, um das Fortschreiten der Krankheit einzudämmen.

Wir haben viel über Forschung und neue Projekte gesprochen. Wie sehr profitieren Patientinnen und Patienten jetzt schon ganz praktisch von KI?

Die Technologie trägt wesentlich dazu bei, dass die Patienten besser, auf ihre individuellen Bedürfnisse und ihre Situation zugeschnitten behandelt werden. Wie erwähnt ist die Augenheilkunde ein Bereich, in dem KI-Systeme zu helfen beginnen. Auch in der Radiologie wird KI in klinischen Routinen eingesetzt; sie hat zum Beispiel während der Pandemie geholfen, Covid-19-Infektionen zu beurteilen und sie auf Röntgenbildern von anderen Atemwegserkrankungen zu unterscheiden. Ein Bereich, in dem die KI bereits sehr stark vertreten ist, sind Gesundheits-Apps, wie etwa Apps zur Überwachung der Ernährung oder spezieller Diätanforderungen – Diabetes usw. Aber auch bei der Planung und Durchführung von Operationen – um Eingriffe noch sicherer zu machen – und bei der Krebsbehandlung – Unterscheidung von Tumorarten, um die richtige Therapie zu finden, oder Anpassung der Strahlendosis, um gesundes Gewebe zu schützen – ist KI im Kommen.

Zurück zum CAIM: Was sind die nächsten Schritte des Zentrums?

Wir freuen uns auf das zweite Jahr unseres neuen Masterstudiengangs für KI in der Medizin mit den ersten Abschluss­arbeiten und auf die Studierenden, die im Herbst mit dem Studiengang beginnen werden. Ausserdem planen wir für den frühen Winter ein Symposium zu unserer Forschung und wollen die Arbeit unseres Embedded Ethics Lab intensivieren. Hier planen wir die Fortsetzung eines Pilotprojektes mit Gesprächen zum Thema Ethik und wollen Trends zur gesellschaftlichen Akzeptanz von KI im Gesundheitswesen ermitteln.

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