Editorial

Stoppt das digitale Vergessen!

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Oliver Schneider, stv. Chefredaktor, Netzwoche. (Source: Netzmedien)
Oliver Schneider, stv. Chefredaktor, Netzwoche. (Source: Netzmedien)

Im vergangenen März hat Myspace einräumen müssen, dass mehr als 50 Millionen auf der Plattform gespeicherte Songs unwiederbringlich verloren gingen. Vor dem Aufstieg von Facebook war Myspace der Social-Media-König schlechthin. Im Jahr 2003 gegründet, stieg die Nutzerzahl der Website bis 2009 auf fast 270 Millionen. Vor allem Musiker nutzten die Plattform, um sich selbst und ihre Kunstwerke im Internet zu präsentieren. Und genau hier trat dann der Super-GAU ein. Sämtliche Musikdateien, welche die Nutzer zwischen 2003 und 2015 hochgeladen hatten, verschwanden infolge eines Migrationsprojekts für immer von den Myspace-Servern. Ein Back-up existierte offenbar nicht. "Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten und schlagen vor, dass Sie Ihre Sicherungskopien behalten", schrieben die Betreiber lapidar.

Mir als gelerntem Historiker jagen solche Meldungen einen Schauer über den Rücken. Menschen haben ein Bedürfnis, ihre Geschichte zu kennen. Wir wollen wissen, wo wir herkommen, was unsere Vorfahren erlebt haben und wie wir zu dem wurden, was wir heute sind. All dies versuchen wir herauszufinden, indem wir Überbleibsel aus der Vergangenheit sammeln und studieren. Dokumente, Bilder, Ruinen, Werkzeuge oder Musikstücke – wir sind umgeben von Quellen, die unsere Geschichte erzählen können.

Das digitale Zeit­alter, in dem jede Information über das Internet zugänglich ist und wir alle massenhaft Daten produzieren, sollte das Paradies für Historiker sein – müsste man meinen. Tatsächlich befürchten viele heute ein "digitales Vergessen". Früher gab es zwar weitaus weniger Informationen, diese waren aber auf verschiedenen Medien gespeichert, die sich in einem Archiv physisch sammeln und im Notfall auch ohne Strom auswerten liessen.

Heute, wo praktisch das ganze kulturelle Gedächtnis der Menschheit nur noch in Bits und Bytes vorliegt, stellt sich die Frage, wie wir dieses gewaltige Wissen für die Nachwelt aufbewahren. Wird im Jahr 2100 noch jemand eine MP3-Datei anhören können? Was geschieht mit den auf Youtube gespeicherten Videos, wenn Google einmal pleitegehen sollte? Wie lange bleiben Daten auf einer SSD lesbar? Lösch-Unfälle wie jener bei Myspace führen uns eine Schattenseite der Digitalisierung vor Augen. Und sie sollten uns zumindest dazu motivieren, Back-ups von allen Daten anzulegen, die uns persönlich wichtig sind. Ja, das kostet Zeit und Geld, aber eines Tages sind wir froh da­rum. Auch bei Myspace, denn zwei Wochen nach Bekanntwerden des Datenverlustes stellte das "Internet Archive" eine Sammlung von fast 500 000 Songs aus dem Fundus der Plattform online. Ein kleiner Teil nur des Myspace-Schatzes, aber immerhin etwas.

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