Wild Card von Christopher Müller

"Every Page is a Landing Page"

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Jede Seite im Web ist ein möglicher Einstiegspunkt für User – und dennoch werden viele Inhalte so gestaltet, als käme man brav über die Startseite. Das Resultat: Verwirrung, Absprünge und verschenktes Potenzial. Zeit, ­umzudenken.

Christopher Müller ist Inhaber und VRP von Die Ergonomen Usability. (Source: zVg)
Christopher Müller ist Inhaber und VRP von Die Ergonomen Usability. (Source: zVg)

Es war einmal die Startseite. Stolz thront sie über der Webpräsenz, mit grossflächigem Bild, Claim und Button. Sie soll der Anfang sein – der Anfang einer Reise, wohlgelenkt und geplant.

Doch dann kam Google. Und Social Media. Und Chat­GPT. Und plötzlich steigen die User irgendwo ein: auf einer Unterseite, in einem Help-Artikel, bei einer Stellenanzeige. Ohne Kontext, ohne Orientierung, mitten im Geschehen. Und sie stellen sich Fragen: Wo bin ich hier? Was kann ich hier tun? Ist das relevant für mich? «Every page is a landing page» ist keine Hypothese, sondern Realität. Jede Seite kann Einstiegsseite sein. Und genau deshalb muss jede Seite drei Dinge leisten: das Ziel bestätigen, Orientierung bieten, zur erwünschten Handlung auffordern.

Doch viele Websites ignorieren das. Unterseiten sind oft wie digitale Abstellkammern: intern gedacht, technisch benannt, mit Informationen, die sich nicht einordnen lassen. Wer direkt dort landet, hat Pech gehabt oder muss mühsam über die Homepage neu einsteigen. 

Beispiel: die Produktdetailseite

Da steht das Feature korrekt beschrieben, die Details sind minuziös dargelegt. Die Vorteile? Irgendwo im PDF. Die Zielgruppe? Unklar. Die nächste Aktion? Vielleicht im Footer versteckt. Dabei wäre es so einfach:

  • Für wen ist dieses Angebot?
  • Was bringt es konkret?
  • Was kann ich jetzt tun?

Drei einfache Fragen. Eine grosse Wirkung: Orientierung. Verweildauer. Vertrauen. Selbst eine gute Idee kann durch schlechte Platzierung wirkungslos werden. Wer denkt, dass SEO allein das rettet, vergisst: Sichtbarkeit ist nur der erste Schritt. Verstehen ist der zweite. Handeln der dritte. Und genau daran scheitern viele ­Seiten.

Das UX-Paradoxon

In die Gestaltung der Startseite wird sehr viel Energie investiert: Workshops, Personas, Wireframes, Tests. Und die restlichen 47 Seiten? Diese bekommen ein Copy-Paste-Layout und ein paar Bulletpoints. Das ist, als würde man ein Luxushotel mit Marmor-Eingang bauen und dahinter leuchtstoffröhrenbeleuchtete Besenkammern mit Feldbett anbieten.

Content-Strategie bedeutet, jeder Seite einen Zweck zu geben – sie nicht nur existieren zu lassen. Wer Seiten nur für interne Navigation baut, verschenkt ihr Potenzial. Denn User interessieren sich nicht für unsere Struktur. Sie interessieren sich für ihre Aufgabe.

Das Internet ist kein Buch, das von vorne gelesen wird. Es ist ein Netzwerk von Treffpunkten, Umwegen und Quereinstiegen. Wer das nicht versteht, gestaltet an der Realität vorbei.

Das zählt

Digitale Souveränität zeigt sich nicht im Design der Startseite, sondern in der Qualität der Seiten, auf denen man ungeplant landet. Dort entscheidet sich, ob jemand bleibt – oder für immer verschwindet.

Machen Sie den Selbsttest: Öffnen Sie eine beliebige Unterseite Ihrer Website. Ist sofort klar, für wen sie gedacht ist, was sie bringt und wohin sie führt? Wenn nicht: Überarbeiten Sie sie! Oder wie wir Ergonomen sagen: Jede Seite ist eine Einladung. Die Frage ist: Fühlt man sich willkommen?

Webcode
GuZ87NCp