Projekt Futur-ICT

Wer will mithelfen, die Zukunft zu gestalten?

Uhr | Aktualisiert
von Janine Aegerter

Was wäre, wenn wir bereits vor dem Bau eines neuen Quartiers dessen Schwachstellen kennen würden? Oder wenn wir Finanzkrisen bis zu einem gewissen Grad voraussehen und vielleicht sogar deren Ausbruch verhindern könnten? Solche und ähnliche Szenarien sind die Visionen des Projekts Futur-ICT der ETH Zürich.

Dirk Helbing, wissenschaftlicher Leiter von Futur-ICT an der ETH Zürich, vor dem HPC-Cluster "Brutus". (Quelle: ETH Zürich)
Dirk Helbing, wissenschaftlicher Leiter von Futur-ICT an der ETH Zürich, vor dem HPC-Cluster "Brutus". (Quelle: ETH Zürich)

Seit zweieinhalb Jahren obliegt der ETH Zürich die wissenschaftliche Leitung von "Futur- ICT", einem Projekt des FET-Flaggschiff-Programms der Europäischen Union (siehe Kasten Seite 10). Das Ziel von Futur-ICT ist, dank neuer Daten- und Computerplattformen die Zukunft besser gestalten zu können. Dazu will die ETH Technologien bereitstellen, die nicht nur der Industrie, sondern in erster Linie der Gesellschaft dienen. "Das ist vergleichbar mit Wikipedia – jeder kann Beiträge erstellen und publizieren und jeder profitiert davon", sagt Dirk Helbing, wissenschaftlicher Leiter von Futur-ICT an der ETH Zürich. Bei Futur-ICT gehe es darum, ein Gemeinschaftsgut zu schaffen, sozusagen "eine offene Daten- und Modellplattform für jedermann". Neben der ETH sind noch viele weitere Universitäten an Futur-ICT beteiligt.

Im Mai des letzten Jahres sind aus mehr als 20 Projekten, die beim FET-Flaggschiff- Programm der EU mitgemacht haben, sechs Finalisten ausgewählt worden. Futur-ICT belegte in dieser Auswahl den ersten Platz und kämpft nun zusammen mit den fünf anderen Projekten um das Siegerpodest, das zwei der sechs Finalisten erklimmen werden. Neben Futur-ICT haben noch zwei weitere Finalisten ihre Wurzeln in der Schweiz. Sie sind unter massgeblicher Beteiligung der ETH Zürich und der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) entstanden (siehe unten). Regelmässig müssen die nominierten Projekte gegenüber der Europäischen Kommission Bericht über den Stand ihrer Projekte erstatten.

Drei verschiedene Ebenen

Futur-ICT besteht aus drei verschiedenen Ebenen. Erstens aus der Datenebene, dem sogenannten "Planetary Nervous System". Hier werden Daten über unsere techno-sozioökonomische Umwelt erhoben und dargestellt, was sozusagen Data Mining in Echtzeit entspricht. Die zweite Ebene, die Modellseite, wird vom "Living Earth Simulator" dargestellt, der anhand der Daten "Was-wäre-wenn-Szenarien " simuliert. Die dritte Ebene bezieht die Gesellschaft mit ein. Die sogenannte "Global Participatory Platform" soll den Menschen die Gelegenheit bieten, sich mit Daten, Modellen und Ideen zu beteiligen und von den Ergebnissen zu profitieren.

Die Daten sollen laut Helbing dezentral gespeichert werden, in Zusammenarbeit mit mehreren europäischen Rechenzentren, die an Futur-ICT beteiligt sind. Dazu gehören unter anderem der Computer-Cluster "Brutus " im Rechenzentrum der ETH Zürich, weitere Rechenzentren in der Schweiz sowie der Supermuc bei München. "Zudem wollen wir nicht einfach wild alle Daten sammeln, die zusammenkommen, sondern vor allem die relevanten Daten, die uns helfen, makroskopische Zusammenhänge zu erkennen, beispielsweise wie die Wirtschaft die Gesellschaft beeinflusst und umgekehrt", sagt Helbing.

Daten müssen gefiltert werden

Wie diese Daten konkret gefiltert werden sollen, ist eine der Fragen, die sich die Macher von Futur-ICT stellen müssen. "Es ist eine grosse wissenschaftliche Kunst, die relevanten Informationen aus einer Unmenge an Daten herauszufiltern. Das ist, wie die Nadel im Heuhaufen zu finden", beschreibt Helbing die Herausforderung. Zudem müsse man bedenken, dass viele Daten an sich noch nicht die Lösung seien. "Blindes Data Mining beispielsweise löst dieses Problem nicht. Wir wollen verstehende Modelle entwickeln, wir wollen wissen, warum Dinge passieren."

Doch Modelle allein sind nicht des Rätsels Lösung. "Wir sind uns bewusst, dass Modelle auf Annahmen beruhen und daher in ihrer Aussagekraft begrenzt sind." Aus diesem Grund wollen die Forscher diese Daten mit interaktiven Elementen verbinden. Als Beispiel nennt Helbing dabei die Planung für ein neues Quartier. Statt es "nur" anhand von Architekturmodellen darzustellen, könnte man es in 3-D umsetzen und den Bürgern in einer Art "Second Life"-Welt, einem sogenannten Exploratorium, Zugang zum neuen Quartier gewähren. So würde man sehen, wie sie sich darin bewegen und wie sie die Angebote nutzen, um nur eine mögliche Anwendung der Global Participatory Platform zu nennen.

Verschiedene Exploratorien

Exploratorien soll es in einer Handvoll konkreter Anwendungsfelder geben: im Bereich "Future Cities", wozu das genannte Beispiel mit dem neuen Quartier gehören würde, oder in "Smart Energy Systems", beispielsweise für energieeffizientes Wohnen oder Arbeiten. Weiter kommt der Bereich "Health", etwa für eine Analyse der Ausbreitung von Epidemien, hinzu oder "Finance" zur Untersuchung von finanziellen Systemen und deren Probleme.

Die Exploratorien sollen unter anderem bei der Früherkennung von Chancen und Problemen helfen, also beispielsweise mögliche Verkehrsprobleme in einem geplanten Quartier aufdecken. Zudem wäre im Fall des neuen Quartiers bereits vor der Umsetzung klar, welcher Plan von der Bevölkerung favorisiert wird, was wiederum das Risiko von Einsprachen gegen das Bauvorhaben mindern könnte.

"Die Frage ist letztlich, wie man solche Dinge umsetzt", gibt Helbing zu bedenken. Wie kann man erreichen, dass die Plattform sinnvoll genutzt und nicht von Cyberkriminellen missbraucht wird? Wie kann man ermöglichen, dass die Anwender die Kontrolle über ihre Daten bekommen? Diese Fragen stehen im Zentrum des Forschungsprogramms von Futur-ICT, denn die Schaffung von offenen Plattformen erfordert deren Beantwortung.

Und was, wenn Futur-ICT nun doch nicht siegreich aus dem EU-Wettbewerb hervorginge? Helbing ist optimistisch: "Wir sind davon überzeugt, dass dieses Projekt in der einen oder anderen Form, also mit oder ohne EU, Realität werden wird." Die Frage sei eigentlich nur, ob es im Rahmen des FET-Flaggschiff- Programms umgesetzt werde oder ob eines der grossen Internetunternehmen die Idee aufnehme und sie dann umsetze. "Würde es von der EU gefördert, kämen die Resultate der Allgemeinheit zugute. Ein Internetgigant hätte sicher das Geld und die Möglichkeiten, die Vision umzusetzen, würde dann aber wohl primär selbst davon profitieren."

Auch eine finanzielle Frage

Die Schweiz würde im Fall eines Sieges etwa 15 Prozent des Budgets der Europäischen Kommission erhalten, weil sie sich auch finanziell beteiligt. In der Ramp-up-Phase vergibt die Europäische Kommission zunächst insgesamt etwa 54 Millionen Euro für einen Zeitraum von 2,5 Jahren, das heisst etwa 20 Millionen Euro pro Jahr. Das Budget soll im Rahmen des nächsten EU-Rahmenprogramms "Horizon 2020" auf 50 Millionen Euro pro Jahr erhöht werden, aber bis dahin kann laut Helbing noch viel passieren.

Einziger Wermutstropfen des Projekts: Die Europäische Kommission wollte ursprünglich eine Milliarde Euro vergeben, hat aber den Betrag inzwischen drastisch auf 500 Millionen Euro reduziert – eine Entscheidung, die nicht für alle Beteiligten nachvollziehbar ist. Nun sieht der Plan vor, dass die restlichen 500 Millionen Euro von dritter Seite beigesteuert werden, zum Beispiel durch Universitäten in ganz Europa, die beteiligten Länder und durch Businesspartner. Für die Ramp-up-Phase sieht die Lage für Futur-ICT schon sehr vielversprechend aus, aber die Partnerschaften mit der Industrie sollen noch ausgebaut werden.

Schweizer Projekte für das Flaggschiff-Programm der EU

Im Rahmen ihres 7. Forschungsrahmenprogramms hat die Europäische Union (EU) Grossprojekte, sogenannte Flaggschiff-Initiativen, im Bereich Future and Emerging Technologies (FET) ausgeschrieben. Mit den FET Flagships will die EU grosse, ambitiöse Forschungsvorhaben mit visionären Zielen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) fördern. Dazu stellt die Europäische Kommission über einen Zeitraum von zehn Jahren knapp 500 Millionen Euro in Aussicht. Aus den über 20 Projekten wurden im März dieses Jahres die sechs aussichtsreichsten Kandidaten ermittelt, zwei davon werden das Siegerpodest erklimmen. Ab Ende 2013 sollen diese beiden Sieger ihre Projekte umsetzen können.

Die sechs Finalisten sind:

  • Futur-ICT (ETH Zürich, EPFL und andere)
  • Guardian Angels (ETH Zürich, EPFL und andere)
  • The Human Brain Project (EPFL und andere)
  • Graphene Science and Technology for ICT and beyond (Nokia und verschiedene europäische Universitäten)
  • IT Future of Medicine: A Revolution in Healthcare (Siemens und verschiedene europäische Universitäten)
  • Robot Companions for Citizens (verschiedene europäische Universitäten)