Bill McDermott: "Es dauert zu lange, die Unordnung aufzuräumen"
Nach 17 Jahren bei SAP hat er das Unternehmen im Oktober 2019 quasi über Nacht verlassen. Heute träumt der 60-Jährige New Yorker davon, mit ServiceNow das führende Softwareunternehmen des 21. Jahrhunderts zu schaffen. Bill McDermott, einer der profiliertesten US-Top-Manager, exklusiv im Interview mit der Netzwoche.
Bevor Sie im Oktober 2019 zu ServiceNow kamen, arbeiteten Sie 17 Jahre lang bei SAP - wie schwierig war es für Sie, sich mit der Unternehmenskultur von ServiceNow zu identifizieren?
Bill McDermott: Zuerst möchte ich Ihnen sagen, dass ich eine grossartige Karriere bei SAP hatte. Und ich möchte SAP auch gratulieren zu ihrem 50-jährigen Bestehen dieses Jahr. Herzlichen Glückwunsch! Ich hätte meinen Vertrag mit ihnen einfach um weitere fünf Jahre verlängern können, aber ich habe mich entschieden, das nicht zu tun und zu ServiceNow zu wechseln. Denn ich glaube, dass die Probleme und Herausforderungen, welche die ServiceNow-Plattform zu lösen vermag, die Zukunft der digitalen Transformation bedeutet. Und ich will ein Teil dieser Zukunft sein. Als ich bei ServiceNow angefangen habe, merkte ich schnell, dass die Kultur des Unternehmens tatsächlich so ist, wie sie schon erlebt hatte, bevor ich anfing, hier zu arbeiten: hungrig und gleichzeitig bescheiden. Den Grundstein dafür legte Firmengründer Fred Luddy 2004, der die Vision hatte, das Arbeitsleben der Mitarbeitenden besser, einfacher und vorhersehbarer zu machen. Das leistet heute unsere Plattform, die wir "Now" nennen. Als ich die ersten drei Monate bei ServiceNow damit verbrachte, unsere Kunden zu besuchen, stellte ich ausserdem fest, dass wir sehr viele Kunden haben, die ServiceNow einfach lieben. Verstehen Sie? "Lieben". Eine Software. Nun, es ist einfach zu begreifen, dass sich auch unsere Mitarbeitenden dadurch inspiriert fühlen, wenn unsere Kunden glücklich und zufrieden mit unseren Lösungen sind. Denn so können sich die Mitarbeitenden auf Fortschritt und Innovation fokussieren, statt auf das Feuerlöschen.
Wie unterscheiden sich die Unternehmenskulturen ihres aktuellen und ihres ehemaligen Arbeitgebers?
Ich denke, beide Unternehmen haben grossartige kundengetriebene, kundenfokussierte Kulturen. SAP hat zudem einige sehr wichtige Herausforderungen des 20. Jahrhunderts gelöst; mit ServiceNow werden wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts lösen. Wendigkeit und Agilität unseres Unternehmens und der Plattform selbst sind bei ServiceNow einzigartig. ServiceNow wurde designt für Geschwindigkeit. Und zufälligerweise ist Geschwindigkeit auch die wichtigste Anforderung in der digitalen Transformation. Meine Vision ist es, mit ServiceNow das führende Software-Unternehmen des 21. Jahrhunderts zu bauen.
Sie haben damals den Vorstand von ServiceNow mit einem 5-Punkte-Plan überzeugt, Sie als CEO zu engagieren. Wie haben sich globale Entwicklungen wie Covid-19 oder der Krieg in der Ukraine seitdem auf diesen 5-Punkte-Plan ausgewirkt?
Leider kann ich Ihnen meinen 5-Punkte-Plan nicht zeigen – aber ich kann Ihnen sagen, dass der damalige und der heutige 5-Punkte-Plan erstaunlicherweise sehr ähnlich aussehen. Es geht darin sehr stark um die Dynamik rund um die digitale Transformation unserer Kunden. Dafür müssen wir die Plattform sein und das müssen wir auch den Top-Entscheidern klarmachen. Digitale Transformation muss an der Spitze des Unternehmens geschehen. Wir müssen ihnen auch erklären, welchen Impact unsere Lösungen auf das Geschäft in den verschiedenen Industrien haben. Es geht um hunderte von Millionen US-Dollar. Damit wir das erreichen, pflegen wir unser Ecosystem und ermöglichen es unseren Ecosystem-Partnern, auf ServiceNow ihre ehrgeizigen Ziele erreichen.
Wie helfen Sie Ihren Kunden konkret?
Wenn wir mit ihnen sprechen, versuchen wir nicht so zu tun, als wären Unternehmen sauber geordnete Gebilde. Denn sie sind es nicht. Wenn für einen CEO das erste Ziel ist, die Unordnung aufzuräumen, dann wird das Unternehmen unter seiner Leitung die Zukunft verpassen, weil das einfach zu lange dauert. Was wir mit ServiceNow tun, ist, die Unordnung automatisiert zu managen, damit die Mitarbeitenden sich nicht damit herumärgern müssen. Eine Plattform muss so intelligent sein, dass sie das für die Nutzer leisten kann. Das schafft Freiraum für Innovation. Dann können wir darüber nachdenken, wie wir auf das nächste Level kommen und neue Grenzen überwinden.
Bill McDermott: "SAP hat wichtige Herausforderungen des 20. Jahrhunderts gelöst; ServiceNow löst die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts." (Source: ServiceNow / Peter Yang)
Sie übernahmen das Ruder bei ServiceNow kurz vor Beginn der Corona-Krise. Wie hat sich das Unternehmen in diesen turbulenten Zeiten entwickelt?
Ich hatte Glück, dass ich in den ersten drei Monaten meines Engagements bei ServiceNow bereits einen Teil meines 5-Punkte-Plans umsetzen konnte; noch bevor die Welt von Covid überrollt wurde. Als es richtig losging, haben wir bei ServiceNow entschieden, dass wir unsere Power darin investieren wollen, auf der ganzen Welt zu helfen, die Corona-Krise zu bewältigen. So haben wir unsere Plattform der öffentlichen Hand zugänglich gemacht und damit beispielsweise Impfkampagnen unterstützt, indem wir mit unserer Plattform den Workflow von Verteilung, Verabreichung und Monitoring von Milliarden von Impfungen automatisiert haben. So etwa den kompletten Impfprozess für den Gesundheitsdienst NHS in Schottland. Ausserdem halfen wir in Deutschland, in den Vereinigten Staaten, in Teilen Asiens ... Die Unterstützung der Impfkampagnen war die Workflow-Automatisierungs-Opportunität des Jahrhunderts. Worauf ich hinauswill und wie ich ServiceNow sehe: Die grössten Herausforderungen sind unsere grössten Gelegenheiten. Ausserdem glaube ich, dass die grössten Herausforderungen der Menschheit noch vor uns liegen. Denn die Welt ist kein einfacher Ort. Unsere Plattform soll dazu dienen, jeder dieser Herausforderungen die Stirn zu bieten. Und den Menschen helfen, zu gewinnen.
Seit Sie CEO von ServiceNow sind, hat sich der Aktienkurs des Unternehmens verdoppelt. Wie zufrieden sind Sie mit dieser Entwicklung?
Natürlich bin ich glücklich, wenn sich der Aktienkurs positiv entwickelt. Denn mir sind unsere Mitarbeitenden sehr wichtig. Die Vergütungen vieler Mitarbeitenden sind mit der Entwicklung unseres Börsenkurses verbunden. Ausserdem fühle ich mich selbstverständlich unseren Investoren verpflichtet – sie setzen ihr Vertrauen in uns und es ist klar, dass wir diesem Vertrauen gerecht werden wollen. Auch denke ich, dass die gute Entwicklung unseres Börsenwertes ein wichtiges Zeichen für unsere Kunden ist. Damit schaffen wir bei ServiceNow ein Umfeld für Wachstum. So verfügen wir über die nötigen Mittel, um in Forschung und Entwicklung unserer Plattform zu investieren und sie zur innovativsten Plattform in unserem Geschäftsfeld zu machen. Das Gute an einem börsenkotierten Unternehmen ist, dass es sich in den Kapitalmärkten bewegt und diese sehr rational funktionieren. Investoren prüfen die Unternehmen ganz genau, in die sie investieren. Sie tun dies aufgrund von Fakten. Als CEO eines solchen Unternehmens ist es meine Aufgabe, die entsprechenden Resultate zu liefern.
Wie wollen Sie das Wachstum von ServiceNow weiter vorantreiben?
Wir werden weiterwachsen und zwar mit der sogenannten "Rule of 60". Lassen Sie mich erklären: In den vergangenen Jahren hat sich mit der "Rule of 40" die Idee durchgesetzt, dass das Wachstum von Umsatz und freiem Cashflow eines gut performenden Softwareunternehmens zusammen 40 Prozent betragen sollten. Wir wollen aber schneller wachsen. Bei uns soll die Summe 60 ergeben. Unseren Investoren haben wir gesagt, dass wir bis in 5 Jahren deutlich über 15 Milliarden US-Dollar Wert sein werden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dieses Ziel erreichen werden. Und zwar basierend auf unserer eigenen organischen Innovation.
Ich habe gelesen, dass es so schwierig sei, einen Job bei ServiceNow zu bekommen, wie als Student an einer Elite-Universität wie etwa Stanford zugelassen zu werden. Wie finden Sie bei ServiceNow die Fachkräfte, die es braucht, wenn Sie so rigoros filtern?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Wir haben in den vergangen zwei Jahren, also während der Corona-Krise rund 10000 neue Mitarbeitende eingestellt. Wer sind sie und woher kommen sie? Es ist klar, dass so ein Wachstum nicht möglich wäre, wenn wir einfach draussen vor dem Firmengebäude trommeln und rufen würden: "Bitte kommt zu ServiceNow arbeiten!" Etwas anderes geschieht: Junge Talente, die am Anfang ihrer Karriere stehen, wollen bei hochinnovativen Unternehmen arbeiten, welche die digitale Transformation bereits hinter sich haben und sich damit auf das Wesentliche konzentrieren können: allen anderen bei der digitalen Transformation zu helfen. Die Marke "ServiceNow" ist Synonym geworden für Innovation. Sehr viele junge Menschen wollen bei uns arbeiten und wir engagieren sie in grosser Anzahl und bilden sie aus. Wir veranstalten Camps, in denen wir angehende Profis zu Profis machen. Wir bieten die Chance, bei ServiceNow eine lange Karriere zu haben, in der es immer wieder neue Möglichkeiten gibt, sich weiterzuentwickeln. Ich glaube, das ist einfach eine fantastische Sache. Ausserdem kommt es auch häufig vor, dass Mitarbeitende anderer grosser Tech-Unternehmen bei uns arbeiten möchten, eben weil wir für Innovation stehen. Das finde ich grossartig. Und zum Schluss das Wichtigste: Wir behandeln die Leute hier wirklich gut und wir geben unseren Mitarbeitenden eine langfristige und spannende Perspektive. Wenn alle diese Punkte, die ich eben genannt habe, zusammenspielen, dann ziehen wir junge Talente an, halten bestehende Mitarbeitende und gewinnen wir weitere hinzu. So können wir aus den Besten auswählen - so wie die renommiertesten Universitäten der Welt auch. Und das sind weniger als 1 Prozent aller Bewerber.
Übrigens: An der Knowledge '22 in Den Haag hat ServiceNow neue Automatisierungs- und Digitalisierungstools lanciert. Damit sollen Service Desk, Public Sector und Low-Code/No-Code-Management vereinfacht werden. Lesen Sie hier mehr dazu.