Tag 2 des Swiss eHealth Forums 2023

Neuer Schwung für die digitale Transformation im Gesundheitswesen

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von René Jaun und lha

Mit einem grossen Massnahmenpaket will der Bund der Digitalisierung im Gesundheitswesen neuen Schwung verleihen. Das Programm Digisanté war eines der Hauptthemen am zweiten Tag des diesjährigen Swiss eHealth Forums. Behandelt wurde auch die Frage, ob und wie Digitalisierung die Patientensicherheit verbessert.

Lukas Golder, Co-Leiter und Verwaltungsrat, GFS. (Source: zVg)
Lukas Golder, Co-Leiter und Verwaltungsrat, GFS. (Source: zVg)

Zwei Stichworte haben die Referate am zweiten Tag des diesjährigen Swiss eHealth Forum geprägt: Digitalisierung und Patientensicherheit. Die Auftretenden knüpften dabei nahtlos an die Präsentationen des Vortages an.

Bezüglich Digitalisierung ging es zunächst – wenig verwunderlich – ums elektronische Patientendossier (EPD). Dazu präsentierten Lukas Golder sowie Tobias Keller von GFS Einblicke in das Swiss eHealth Barometer 2023. Demnach begegnet die Schweizer Bevölkerung dem EPD mit Vorsicht, während es unter Gesundheitsfachpersonen seit Jahren an Zuspruch verliert. Dies gelte "vor allem für jene, die es schon verwenden", wie Keller ausführte. Für Unzufriedenheit sorgen unter anderem die Finanzierung, das Einführen von Schnittstellen, die Übertragung von Daten aus einer Primärlösung sowie die Nutzerführung.

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Tobias Keller, Projektleiter und Teamleader Data Analytics bei GFS. (Source: zVg)

Immerhin will der Bund einige der kritisierten Punkte mit einem überarbeiteten EPD-Gesetz angehen. Das Gesetz befindet sich noch bis im Oktober in de Vernehmlassung. Bei dieser Revision werde wichtig sein, wie das Publikum über das geplante Opt-out-Modell denke, sagte Golder. Und auf die Frage, welche Rolle Bund und Kantone übernehmen sollen, um dem EPD zu mehr Schwung zu verhelfen, empfahlen die Referenten den regelmässigen Austausch mit Hausärzten und -ärtztinnen; dies, weil laut der Umfrage die meisten Teilnehmenden ein EPD beim Hausarzt eröffnen würden. Man solle ausserdem nach Early Adopters und investitionsfreudigen Fachpersonen suchen. "So habe ich einen gewissen Optimismus, dass die Jahre überbrückt werden können, in denen wir ein System haben, das erkennbare Schwächen hat", sagte Golder.

60 Digitalisierungsprojekte

Das EPD ist jedoch längst nicht das einzige E-Health-Projekt des Bundes. Einiges umfangreicher ist Digisanté, ein ganzer Strauss an Vorhaben, um die Digitalisierung im hiesigen Gesundheitswesen voranzutreiben, wie Rémy Lüthi und Simon Lanz vom Generalsekretariat des Eidgenössischen Departement des Innern (GS EDI) ausführten. Fünf der momentan grössten Probleme liegen in den Bereichen Datenerhebung, Datenstruktur, Datenzugang, tiefer Digitalisierungsstand bei Behördenprozessen sowie fehlende zentrale Dienste. All diese Probleme seien mit der Covid-19-Pandemie in die Öffentlichkeit gerückt worden – "das gibt uns ein 'Window of Opportunity'", kommentierte Lanz und verwies unter anderem auf einen vom Parlament überwiesenen Vorstoss.

Konkret soll Digisanté aus etwa 60 verschiedenen Vorhaben bestehen, die in fünf Paketen zusammengefasst werden. Eines davon setzt sich etwa mit der noch fehlenden Infrastruktur (dazu gehören auch Register) auseinander, wie Lanz erklärte. In einem weiteren geht es um die Digitalisierung von Behördenleistungen, wie etwa der Meldepflicht bei bestimmten Krankheitsfällen.

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Simon Lanz und Rémy Lüthi vom Generalsekretariat des Eidgenössischen Departement des Innern (GS EDI). (v.l., Source: zVg)

Die beiden Referierenden zeigten aber auch die Grenzen von Digisanté auf. So sei es nicht das Ziel des Bundes, selbst eine Infrastruktur zu bauen – "die Kompetenz des Bundes ist sehr begrenzt", sagte Lanz dazu. Auch einzelne Akteure werde man nicht digitalisieren. Man wolle also keinesfalls mit privaten Anbietern in Konkurrenz treten. Das Programm umfasse "Ziele, Dienstleistungen und Vorhaben, die nicht umgesetzt werden würden oder könnten, wenn Bund und Kantone sie nicht an die Hand nehmen." Man sei überzeugt, dass alle Akteure – auch wenn Investitionen ihrerseits nötig sein würden – an Digisanté interessiert seien. Denn im Gegenzug gebe es für den Aufwand auch einen längerfristigen Investitionsschutz. Denn seien die geplanten Standards einmal definiert, werden damit kompatible Primärlösungen längere Zeit den Anforderungen entsprechen.

7 operative Ziele

Noch befindet sich Digisanté im Anfangsstadion. Laut den Referierenden wird dem Bundesrat Ende 2023 eine Botschaft dazu unterbreitet. 2024 wird das Vorhaben im Parlament behandelt. Laufen soll Digisanté von 2025 bis 2028.

Zusammenfassen lässt sich die Strategie von Digisanté in vier Worten: "Digitalisieren, orchestrieren, standardisieren und verankern"; wie Mathias Becher, Abteilungsleiter Digitale Transformation und Programmleiter Digisanté beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) zusammenfasste. Operativ verfolgt das Programm sieben Ziele:

  • Ein gemeinsames Verständnis für ein modernes Gesundheits-Ökosystem schaffen;

  • Sichere Interoperabilität ermöglichen;

  • Behördenleistungen digitalisieren;

  • Zugang für die Forschung auf Gesundheitsdaten gewährleisten;

  • Standards weiterentwickeln;

  • Eindeutige Identifikatoren etablieren;

  • Basisdienste entwickeln.

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Mathias Becher, Abteilungsleiter Digitale Transformation und Programmleiter Digisanté beim BAG. (Source: zVg)

Bei alledem soll der Mensch im Zentrum bleiben, betonte Becher. "Wenn wir diesen Fokus verlieren, wird es schwierig." Wiederholt verwies er auch auf sein Credo: die Kraft der vielen. "Ich glaube nicht, dass eine einzelne Person, Gruppierung oder Verband das Ziel eines modernen Gesundheits-Ökosystems erreichen wird." Dafür sei das System zu gross und habe zu viele Abhängigkeiten. Gehe man gemeinsam in dieselbe Richtung, werde das System viel resilienter. Mehr von Mathias Becher und wie er das EPD attraktiver machen will, lesen Sie im Netzwoche-Interview.

Auf die Usability kommt es an

Auf die Frage, warum Digisanté erst jetzt umgesetzt werde, verwies Becher auf die Pandemie, die sehr viel ausgemacht habe. "Digitalisierung musste auch beim Bund ankommen", fügte er hinzu. Er hob aber auch hervor, dass die Gesundheitsbranche "menschenzentriert" sei. Anders als etwa in der Logistik- oder Transportbranche, wo es ohne Datennutzung und Digitalisierung nicht gehe, sei ein Hausarzt weit weniger darauf angewiesen.

In der zweiten Hälfte des Vormittagsprogramms stand dann die Beziehung zwischen Digitalisierung und Patientensicherheit im Vordergrund. David Schwappach, Leiter Forschungsschwerpunkt Patientensicherheit am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern, zeigte in seinem Referat auf, dass durch gute elektronische Unterstützung der Arbeit von Gesundheitsfachpersonen Gefahren für Patienten signifikant reduziert werden können. Allerdings liessen sich auch gegenteilige Effekte beobachten. "Wir können nicht einfach Technik hinstellen und denken, dass es so schon besser wird", so Schwappach.

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David Schwappach, Leiter Forschungsschwerpunkt Patientensicherheit am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern. (Source: zVg)

Namentlich verwies er auf eine in Australien durchgeführte Studie, die die Anzahl schwerwiegender Fehler bei der Medikamentenverordnung nach Einführung eines neuen digitalen Systems beobachtet. Seine Zusammenfassung: "Hat man die Wahl und weiss davon, sollte man nicht in den ersten 70 bis 90 Tagen nach einer starken Veränderung der digitalen Welt in das Spital gehen." Die Studie zeigte auch auf, dass sich die Fachpersonen, die mit dem digitalen System arbeiteten, dessen Sicherheitsmassnahmen als störend empfanden. Die Folge: Die Mitarbeitenden entwickelten Workarounds, die dann wiederum das Risiko von Fehlverordnungen anhoben.

In einer weiteren Studie wurden zwei klinische Informationssysteme (KIS) in vier Spitälern getestet. Die Ergebnisse: Es bestehen bezüglich der Sicherheit Anwendungsspezifische Unterschiede. Man könne sich somit fragen, "ob es ethisch gerechtfertigt ist, das schlechter performende System in ein Spital zu stellen".

Des Weiteren zeigte sich, dass nicht nur das KIS, sondern auch die Art dessen Implementierung für unterschiedlich hohe Fehlerquoten sorgten. Schwappach plädierte in der Folge für bessere Usability. "Eine schlechte Digitalisierung macht Leute krank und kaputt – auch das hat am Ende Auswirkungen auf die Patientensicherheit", sagte er.

Lokal denken

Marc Oertle, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Informatik (SGMI), warf einen kritischen Blick auf Studien zum Zusammenhang zwischen Sicherheit und Digitalisierung. "Man untersucht oft Sachen, die nicht mehr relevant sind, und verkauft das dann als Verbesserung der Sicherheit dank Digitalisierung", beklagte er. So hätten sich etwa Hüftgelenk-Operationen in den vergangenen zehn Jahren grundsätzlich so stark verändert, dass man heutige Operationen nicht mehr mit den damaligen vergleichen könne.

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Marc Oertle, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Informatik (SGMI). (Source: zVg)

Sein Fazit: "Es gibt nicht die Digitalisierungsmassnahme, die Sie durchführen können". Je nach Setting würden sich andere Schritte eignen. Anstatt nationaler Initiativen empfahl Oertle darum, lokal zu denken. Auf die Frage, ob sich Patientensicherheit dank Digitalisierung effektiv verbessert habe, antwortete der Referent mit einem "Jein": Man habe heute bessere, strukturierte Daten, könne Entscheidungen besser unterstützen und die Qualität verbessern. "Aber wir haben keinen Quantensprung gemacht."

Das Datum für die nächste Ausgabe des eHealth Forums steh bereits fest: Es geht am 21. und 22. März 2024 wiederum in Bern über die Bühne.

Die erste Hälfte der Infosociety Days stellte übrigens das Swiss E-Government Forum dar. Vor welche Herausforderungen der digitale Föderalismus die öffentlichen Verwaltungen stellt, erfahren Sie hier. Mehr zum vereinten Kampf gegen das Papier, lesen Sie hier.

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